Das Tor der Tränen

■ Steht der äthiopische Staat nach dem Ende des Bürgerkriegs vor dem Zerfall?

Das Tor der Tränen Steht der äthiopische Staat nach dem Ende des Bürgerkriegs vor dem Zerfall?

Es ist mehr als der Versuch der Errichtung eines afrikanischen Sozialismus, der mit dem Sturz des äthiopischen Militärregimes zu Ende geht. Beendet ist aller Voraussicht nach auch ein Jahrhunderte altes afrikanisches Reich, das auf der Dominanz einer amharischen Minderheitsaristokratie über mittlerweile 50 Millionen ausgehungerte Äthiopier verschiedenster Volkszugehörigkeit beruhte. Ob im Zeichen des koptischen Christentums, wie zu den Zeiten der Kaiser, oder unter Eindruck des Marxismus-Leninismus, wie unter den Militärs und ihrer Einheitspartei — stets blieb Äthiopien ein Kolonialreich. Äthiopien ist der einzige Staat in Afrika, dessen Grenzen nicht von Europäern am grünen Tisch auf der Landkarte gezogen, sondern von den eigenen Herrschern in Eroberungsfeldzügen erkämpft wurden. Seinem inneren Selbstverständnis nach stand das äthiopische Reich Europa somit näher, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Geht es nach den Vorstellungen der in der Beendigung des Bürgerkrieges ungewöhnlich offen agierenden USA, so sollen sich nun alle Äthiopier an einen Tisch setzen und mit patriotischem Elan und hochgekrempelten Ärmeln das Land aus dem Dreck ziehen. Doch die Bewohner Äthiopiens sind nicht einfach Äthiopier, genausowenig wie Jugoslawiens Einwohner Jugoslawen oder die der UdSSR Sowjetbürger sind. Sie sind Eritreer, Tigrays, Oromos, Somalis. Sie vertreten erst einmal sich selbst und wollen sich selbst regieren. Sie wollen selbst entscheiden, ob und wie es ein Äthiopien geben soll.

Leider ist die Weltpolitik noch nicht flexibel genug, um Demokratie auch in der Festlegung von Staatsgrenzen walten zu lassen. Auf dem Diplomatenparkett findet nur derjenige Anerkennung, der auch ein anerkanntes Territorium repräsentiert. Einfach sein Volk zu vertreten — das reicht nicht. In Osteuropa hat diese Politik bislang lediglich Konfusion zur Folge gehabt. Am Horn von Afrika sind es Millionen von Menschen, deren Leben dadurch in Gefahr gerät.

In Somalia ist dies bereits deutlich. Dort gibt es zwei Regierungen, eine im Süden und eine im Norden, die zwar von den von ihnen beherrschten Menschen anerkannt werden, international jedoch nicht. So werden unter dem Vorwand, es gebe ja keine Regierung, Handel, Kooperation und Hilfe verweigert. Soll im viel größeren und komplizierteren Äthiopien dieselbe Blindheit herrschen und die Selbstverständlichkeit internationaler Kooperation an völkerrechtlichen Dogmen scheitern? In diesem Fall hätte das „Tor der Tränen“, wie die Meerenge am Eingang zum Roten Meer auf arabisch heißt, seinen Namen wahrlich verdient. Dominic Johnson