Verwirrung der Sinne

■ »Wächter des Nebels«, ein Film aus der Autonomen Provinz Kosovo, im Regenbogenkino

Memo und Dinore könnten eigentlich ein ganz normales Leben leben. Memo nähme dann Anzügen, Dinore Versen das rechte Maß. Nur, die beiden sind Albaner, und wo sie leben, gibt es kein normales Leben. So ist es dann auch egal, ob man näht oder schreibt — wie Memo sagt —, ausnahmslos jede Maß-Nahme ist tödlich suspekt und macht unterschiedslos alle zu Opfern eines kollektiven Schicksals: In Kosovo wird das Leben zur Hölle.

Schon vor Ausbruch des blutigen Feldzuges gegen zwei Millionen seiner Landsleute spürte Isa Qosja (Jahrgang 1949) den schwelenden Konflikt mit den anmaßenden serbischen Machthabern. Sein bereits 1988, also vor dem gewaltsamen Anschluß der Autonomen Provinz Kosovo an Serbien, entstandener Spielfilm Wächter des Nebels (Rojet e Mjeguelles), der jetzt erstmals in Berlin zu sehen ist, nimmt das drohende Unheil in atemberaubenden Metaphern vorweg. Gleich in der Eingangssequenz durchschneidet ein dahinpreschender, lodernder Schimmel — den Albanern Symbol der Unterdrückung durch Serbien — die arkadische Landschaft mit seiner Flammenspur. Zurück bleibt verbrannte Erde, deren aufsteigende Rauchschwaden das Land in dichte Nebel hüllen. Kein Entrinnen vor dem Höllenbrand, der bis in die verborgensten Winkel dringt, selbst in die Stube des Dichters Dinore quillt und die Manuskripte vom Schreibtisch fegt. In der angespannten Stille ein Pochen an der Tür. Memo, der Schneider, wirr um sich blickend, sucht seine Frau. Von entferntem Hundegebell getrieben, hetzt er die brennenden Straßen ab und muß mit ansehen, wie seine Frau verhört und gedemütigt wird. Als Memo kurz darauf auf offener Straße von ebendiesen Geheimdienstleuten in schwarzledernen Gestapo-Mänteln zusammengeschlagen wird, stiehlt sich Dinore davon.

Wo der Schrecken allgegenwärtig lauert, zerfließen die Grenzen zwischen innen und außen, Erinnerung und Erwartung, Wahn und Wirklichkeit. Qosja kann dem Zuschauer die katastrophale Verwirrung der Sinne nicht ersparen, wenn totale Bedrohung die Logik aus kausalen Angeln hebt, die eigenen vier Wände zum konspirativen Mitwisser werden. Was Wunder, wenn dann Spitzel wie der leibhaftige Satan durchs Schlüsselloch dringen, spurlos in Grund und Boden versinken, um wie Maulwürfe wieder hervorzukriechen. Kleinste Anlässe geraten zum ersten Glied einer Kette von Verhängnissen. Bei Memo und Dinore war es eine gewöhnliche Anprobe, bei der beiläufig auch von den Farben schwarz und rot die Rede war, was ein übereifriger Spitzel den Geheimdienstschergen zuträgt.

Das perpetuelle Räderwerk aus Verdächtigungen, Unterstellungen und Beschuldigungen kommt in Gang. Da wird Dinore vor einem Klospruch, der den »Tractatus politicus« des gotteslästerlichen Spinoza zitiert, erwischt, ein anderes Mal beim Abhören des Radios just in dem Moment ertappt, in dem der Wetterbericht das baldige Aufklaren des Nebels vermeldet. Selbst intime Träume werden fortan zum belastenden Indiz.

Wo alles drunter und drüber geht, dreht man am Ende durch und muß passen. Memo, von Folter zermürbt, gibt sich schließlich zur Denunziation her, während Dinore seine Gedichte verheizt. Wie von Sinnen stürzt er auf den zuschanden gerittenen Schimmel zu, der in einem Sumpfloch versinkt und kann doch nur noch dessen Schädelskelett bergen. An ausgebrannten Häusern vorüberziehend, in deren Ruinen noch die letzten Flammen züngeln, beschwört die Stimme aus dem Off: »Wir können jederzeit sterben — doch die Gerechtigkeit nie!«

Rina, gleichsam ein Engel im Fegefeuer, wendet bei ihrer ersten Begegnung mit Dinore ein, seine Gedichte nur schwer zu verstehen. Schwer ausdeutbar sind auch die Einzelteile der Bildfolgen, die Regisseur Qosja als poetische Chiffren in einem Psychogramm des Terrors verstanden wissen will. Da erklettern Beamte, mit Ärmelschonern versehen, dreist eine prachtvolle Weide, und die »bessere« Gesellschaft tanzt einen Reigen dazu. Ein Folterknecht tritt als asthmatische Katze auf, um die vermeintlichen Delinquenten zu entmannen. Memo vollführt vor seiner Verhaftung einen Veitstanz, der in moslemische Gebetshaltung übergleitet, um daraufhin in entfesseltem Zorn einem der finsteren Häscher ein Ohr abzubeißen. Rätselhaft bleibt das Geschehen um Trasha, einer Irren, die vergewaltigt wird. Dinore bedrängen Alpträume, in denen Trasha von Dorfjungen gesteinigt und anschließend bepißt wird — eine Sequenz, in ihrer Drastik wohl nur mit Pasolini vergleichbar.

Obwohl Qosja die politischen Vexierbilder wohlweislich weder zeitlich noch lokal eindeutig fixiert, dürften Eingeweihten Details wie etwa das Porträt des berüchtigten serbischen Ex-Polizeichefs Rankovic, im Verhörzimmer neben dem Bildnis Titos plaziert, Aufschluß geben. Erstaunlich bleibt, daß das von »Kosovofilm« produzierte Werk — offenbar in einer Phase relativer Liberalisierung — überhaupt entstehen konnte. Kaum verwunderlich hingegen, daß der fertige Film in Serbien unter dem Verdikt von Ministerpräsident Milosevic energisch boykottiert wird. Zumal Qosja am Ende mit einer unmißverständlichen Vision aufwartet: In Dinores Hand schwillt die Schreibfeder zur gewaltigen Lanze,, die den Potentaten niederschmettert... Roland Rust

Wächter des Nebels ab heute bis Sonntag, jeweils um 20.30 Uhr im Regenbogenkino, Lausitzer Straße sowie anschließend vom 18. bis 20. Juni im Babylon (Mitte). In albanischer Originalfassung mit englischen Untertiteln.