Äthiopiens stiller Pate Israel

Von jeher ging das israelische Interesse an Äthiopien über das Schicksal der dortigen Juden hinaus. Diplomatie und Waffen sollten für Konformität am Roten Meer sorgen.  ■ VONHALWYNER

In Israel wußte natürlich das halbe Land schon seit Wochen, daß eine große Rettungsaktion für die äthiopischen Juden geplant war. Das deutlichste Zeichen dafür, daß die Vorbereitungen ins letzte Stadium gegangen waren, kam Anfang des Monats, als die seit Februar fast täglich erscheinenden Zeitungsberichte über die prekäre Situation der schwarzen Juden buchstäblich über Nacht verschwanden. Noch am 30. April hatten sämtliche Medien von fieberhaften Vorbereitungen in allen Teilen des Landes für die Aufnahme von Tausenden äthiopischer Einwanderer berichtet, und schon ab 1. Mai war kein Wort mehr darüber zu lesen. Offizielle Erklärung für die strikte Zensur: die äthiopische Regierung fühle sich durch die negative Berichterstattung über die Lage in Äthiopien beleidigt. Hatte doch Staatschef Mengistus engster Berater Kesse Kebebe erst vor wenigen Wochen bei einem Interview im israelischen Armeeradio — und noch dazu in fließendem Hebräisch — erklärt: „Die Situation in Äthiopien verbessert sich. In Addis Abeba gibt es keine Probleme. Bald wird es auch in den anderen Teilen des Landes keine geben.“

Daß die Regierung zur Schonung der Mengistu'schen Nerven die Medien erfolgreich zum Schweigen brachte, konnte freilich vermehrte Gerüchte über die bevorstehende Aktion im Volk nicht verhindern. Tausende von Israelis waren schon eingeweiht — Ärzte, Pflegepersonal, Piloten, Funktionäre, inländische und ausländische Journalisten — und somit wußten (oder zumindest glaubten zu wissen) natürlich auch deren Familien, Freunde, Freundesfreunde und Nachbarn alle möglichen Details. Als die Nachricht vergangenen Samstag endlich durchkam, daß die rund 15.000 äthiopischen Juden in Tel Aviv gelandet seien, staunte man nicht nur wegen der stolzen logistischen Leistung der israelischen Luftwaffe. Die große Überraschung lag vor allem darin, daß „Operation Salomon“ nicht, wie ähnliche Versuche in früheren Jahren, in letzter Minute abgeblasen werden mußte, weil irgendjemand zu viel oder zu früh geredet hatte.

Während die israelischen Medien und die Öffentlichkeit sich nun frei über die Einzelheiten des erfolgreichen Unternehmens unterhalten und über die Eingliederung der äthiopischen Juden streiten dürfen, beschäftigt man sich in Regierungskreisen mit eine anderen Frage, in der noch keine Klarheit herrscht: das zukünftige Verhältnis zwischen Jerusalem und Addis Abeba. Denn die Interessen Israels in Äthiopien beschränkten sich nie allein auf das Schicksal der dort lebenden Juden. Im Gegenteil: Israel hatte schon 20 Jahre lang enge Beziehungen zu Äthiopien unterhalten, bevor diese Frage — erst Mitte der siebziger Jahre — eine bedeutende Rolle zu spielen begann.

Daß Äthiopien 1949 — aus Rücksicht auf seine arabischen Nachbarn — gegen eine Mitgliedschaft Israels in der UNO gestimmt hatte, war für die Aufnahme von Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern bereits drei Jahre danach kein Hindernis mehr. Diese Entwicklung wurde von der israelischen Regierung aktiv unterstützt, und zwar als Teil der vom damaligen Premierminister Ben-Gurion formulierten „peripheren Strategie“, die der regionalen Politik des jungen Staates zugrunde lag. Gemeint war damit der Ausbau von offiziellen, wie auch — mittels des Geheimdienstes „Mossad“ — informellen Beziehungen mit nicht- arabischen Ländern an der Peripherie der arabischen Welt. Im Rahmen dieser Strategie pflegte Israel in den 50er und 60er Jahren geheime Beziehungen mit Iran und der Türkei, unterstützte die Kurden in ihrem Kampf gegen die irakische Regierung, die Maroniten im Libanon und christliche Rebellen im Süden Sudans.

Israel wollte ein „zweites Ägypten“

Äthiopien als Tor zu Schwarzafrika, und noch mehr als einziges nicht-arabisches Land am Roten Meer, wurde zu einem Eckpfeiler der peripheren Strategie. Nach der Vorstellung von Schimon Peres, der in den fünfziger Jahren als Generaldirektor des Verteidigungsministeriums unter Ben- Gurion diente, sollte Äthiopien mit israelischer Hilfe wirtschaftlich und militärisch in ein „zweites Ägypten“ verwandelt werden. Als 1955 der Präsident des ersten Ägyptens, Gamal Abdel Nasser, die islamischen Minoritäten in Eritrea und an der somalischen Grenze Äthiopiens zur Subversion gegen die Regierung Haile Selassies im Rundfunk zu ermuntern versuchte, zeigte sich der christliche Kaiser immer mehr dazu geneigt, die Vorschläge des jüdischen Staates anzuhören. Die Beziehungen wurden schnell formalisiert: Schon 1956 wurde das israelische Konsulat in Addis Abeba eröffnet.

In den Jahren danach waren nicht nur israelische Diplomaten in Äthiopien tätig. Berater und Experten aller Art bemühten sich um den Aufbau der äthiopischen Landwirtschaft, des Gesundheitswesens, der Universitäten, selbst des Postsystems — und natürlich auch des Militärs und der Geheimpolizei. Daß die israelische Armee dabei war, die äthiopische Armee zu organisieren und trainieren, gab Ben-Gurion 1960 sogar öffentlich bekannt. Noch im selben Jahr halfen die Israelis Haile Selassie, einen Putsch-Versuch zu unterdrücken. Als Gegenleistung wurde Israel erlaubt, das Konsulat, das 1962 den Status einer Botschaft erhielt, in eine Mossad-Zentrale zu verwandeln, die, ergänzt durch eine zu diesem Zweck gegründete israelische Handelsgesellschaft für den Verkauf von äthiopischem Rindfleisch, „Incoda“, als Drehscheibe für das Einschleusen von Agenten in die arabischen Länder diente. Von einer Abhörstation in Äthiopien wurde der Radioverkehr zwischen den arabischen Ländern am Roten Meer überwacht.

Das Arrangement zwischen Israel und Äthiopien nahm nach dem Oktober-Krieg gegen Ägypten und Syrien 1973 ein abruptes Ende, als sich Haile Selassie unter arabischem Druck gezwungen sah, die diplomatischen Beziehungen mit Israel abzubrechen. Die marxistischen Offiziere, die den Kaiser im folgenden Jahr stürzten und die Regierung übernahmen, sahen in der Tatsache, daß sie ihre militärische Ausbildung hauptsächlich von Israelis erhalten hatten, keinen Grund, die Beziehungen zu erneuern.

Als die „Falaschen“ noch keine Juden waren

Die Juden Äthiopiens, die ihre Gemeinde selber „Beta Jisreal“ (Das Haus Israels) nennen und von ihren Landsmännern abschätzig „Falaschen“, Fremde oder Ausgestossene, genannt wurden, hatten bis dahin kaum einen Einfluß auf das Verhältnis zwischen Jerusalem und Addis Abeba gehabt. In den frühen fünfziger Jahren hatten einzelne von ihnen auf eigene Faust den Weg nach Israel gefunden und die Regierung dort gedrängt, sich für die anderen einzusetzen, jedoch ohne Erfolg. In Israel herrschte noch die Meinung, die „Falaschen“ seien in Wirklichkeit nur in der eigenen Vorstellung Juden. Zudem war Haile Selassie gegen ihre Auswanderung — zum Teil weil er sich durch den Wunsch seiner Untertanen zu fliehen in seiner kaiserlichen Würde verletzt fühlte, zum Teil weil er für andere unzufriedene Minderheiten im Land kein Exempel statuieren wollte. Um das sich noch anbahnende Verhältnis mit Äthiopien nicht unnötig zu strapazieren, stellte sich die israelische Regierung Taub den Gesuchen der äthiopischen Juden gegenüber. Mossad-Agenten, die in Addis Abeba in den fünfziger und sechziger Jahren tätig waren, erinnern sich an äthiopische Juden, die vor den geschlossenen Türen der israelischen Botschaft um ein Visum gebettelt hatten, nur um weggeschickt zu werden.

Diese Politik änderte sich 1973, als der israelische Oberrabiner Ovadia Josef, sich auf frühere rabbinische Urteile berufend, erklärte, die „Falaschen“ seien „Juden, die vor der Assimilation gerettet werden“ müßten. Diese Entscheidung wurde 1975 vom israelischen Innenministerium übernommen, das den Mitgliedern des Beta Jisrael das Recht zuerkannte, wie alle anderen Juden der Welt, nach Israel einzuwandern und die Staatsbürgerschaft zu erhalten.

Obwohl sich ihre Lage unter der neuen kommunistischen Regierung teilweise gebessert hatte — das unter Haile Selassie noch gültige Gesetz, das den „Falaschen“ den Landbesitz verbot, wurde aufgehoben — wollten die rund 30.000 Juden Äthiopiens (eine winzige Minderheit in einem Land, dessen damalige Bevölkerung auf etwa 25 Millionen geschätzt wurde) fast ausnahmslos ins Gelobte Land übersiedeln. Nur: Das kaiserliche Ausreiseverbot wurde auch von den neuen Herren in Addis Abeba beibehalten.

Der erste ernsthafte Versuch Israels, die äthiopischen Juden in größeren Zahlen ins Land zu holen, wurde Ende 1977 von Menachem Begin unternommen. Ein geheimes Abkommen wurde mit dem neuen Herrscher Äthiopiens, Mengistu Haile Meriam, geschlossen — auch er Absolvent einer israelisch geführten Militärakademie —, wonach Israel Waffen zu liefern hatte, während sich die äthiopische Regierung der illegalen Auswanderung der Juden gegenüber „blind“ stellte. Dieses war auch das erste derartige Unternehmen, das frühzeitig abgebrochen werden mußte, weil einer den Mund nicht halten konnte: Nachdem erst 122 „Falaschen“ über den Sudan nach Israel geschmuggelt worden waren, gab der damalige Außenminister, Mosche Dayan, Anfang 1978 in einem Interview mit dem Schweizer Radio zu, daß die marxistische Regierung in Äthiopien israelische Waffen erhielt.

Splitterbomben für Mengistu

Während sich die äthiopische Regierung vor allem mit dem Zorn der arabischen Länder auseinanderzusetzen hatte, bekam es Israel mit den USA zu tun. Mengistu hatte die letzten amerikanischen Militärberater 1977 aus Äthiopien weggeschickt und durch sowjetische ersetzt. In Washington war man entsetzt darüber, daß Israel im Bund mit der UDSSR, der DDR, Kuba und Nordkorea Mengistu mit Waffen unterstützte, während die USA zusammen mit Ägypten und Saudi-Arabien hinter somalischen Separatisten in Äthiopien standen, die seine Regierung zu stürzen suchten. Dabei war Jerusalem nicht nur von der Sorge um die äthiopischen Juden motiviert. Israel hatte ebenfalls ein Interesse daran, daß die eritreischen Rebellen, die seit 1961 um einen unabhängigen Staat an der Küste des Roten Meeres kämpften, ihr Ziel nicht erreichten. Denn diese genossen ihrerseits eine enge Freundschaft mit Libyen, Sudan und Irak.

Auf Drängen der USA hin stellte Israel dennoch — zumindest eine Zeitlang — die Waffenlieferungen nach Äthiopien ein, während Mossad-Agenten nach Wegen suchten, ohne die Zustimmung der Regierung in Addis Abeba die Juden nach Israel zu bringen. Als sich die Lage in Äthiopien Anfang der achtziger Jahre durch die Folgen des Bürgerkriegs, der Dürre und der Hungersnot dramatisch verschlechterte, wurden die Anstrengungen intensiviert. Bestechungsgelder wurden bezahlt, nach einigen Berichten gelangten auch sowjetische Waffen, die den Israelis im Libanon-Krieg in die Hände gefallen waren, nach Äthiopien, und auf verschiedenen Wegen wurden bis Anfang November 1984 7.000 äthiopische Juden nach Israel gebracht. Gleichzeitig wurde die erste große Rettungsaktion, „Operation Moses“, organisiert. Mit Hilfe des CIA und der US-Botschaft in Khartoum wurde die sudanesische Regierung dazu überredet, gegen eine Bezahlung von 200 Millionen Dollar — plus weitere 60 Millionen Dollar Bestechungsgelder, die auf Konten in der Schweiz und in London vom Mossad einbezahlt wurden — den Flughafen von Khartoum den Israelis zur Verfügung zu stellen. So wurden zwischen Ende November 1984 und der ersten Woche Januar 1985 rund 8.000 weitere äthiopische Juden, die in den Sudan geflohen waren, über Belgien nach Tel Aviv gebracht. Etwa 20.000 blieben in Äthiopien zurück, als die Aktion — wieder weil ein unvorsichtiger israelischer Beamter das Geheimnis zu früh gelüftet hatte — abgebrochen werden mußte.

In den Jahren danach blieben die Beziehungen zwischen Israel und Äthiopien eingefroren, die Einwanderung äthiopischer Juden reduzierte sich auf Einzelfälle. Erst 1989, als die Sowjetunion die militärische Unterstützung für die Marxisten in Addis Abeba stoppte, entdeckte Mengistu sein Herz für die Juden: Die diplomatischen Beziehungen mit Israel wurden im November 1989 wieder aufgenommen; im Rahmen eines Programms zur Familienzusammenführung würden bis zu 500 Juden im Monat „aus humanitären Gründen“ die Erlaubnis bekommen, aus Äthiopien auszureisen. In Anerkennung seiner menschenfreundlichen Haltung erwartete Mengistu neue Waffenlieferungen von Israel.

Indes scheint er nicht alles bekommen zu haben, was er wollte, denn im Laufe des Jahres kam die Auswanderung der äthiopischen Juden immer wieder wegen „technischer Schwierigkeiten“ ins stocken, die immer dann auftauchten, wenn Berichte über die Ankunft israelischer Waffen — einschließlich speziell für den Gebrauch in Guerilla-Kriegen entwickelter Splitterbomben — durchsickerten. Die wiederholten Beteuerungen der israelischen Regierung, daß ihre Experten in Äthiopien nur zur wirtschaftlichen, medizinischen und landwirtschaftlichen Beratung dort seien, wurden in Washington mit Skepsis betrachtet — vor allem als die proisraelische Lobby den Standpunkt vertrat, Mengistu sei im Vergleich zu den Rebellen in Äthiopien das kleinere Übel.

Da Israel Mengistu als seine einzige, wenn auch wacklige Stütze geblieben war, erlaubte er trotz der stockenden Waffenlieferungen etwa 6.000 äthiopischen Juden zwischen Januar 1990 und März 1991 nach Israel auszuwandern. In Jerusalem war man aber schon längst davon überzeugt, daß Mengistus Tage gezählt waren und daß eine größere Rettungsaktion vonnöten sein würde, um das gesamte Beta Jisrael in Sicherheit zu bringen. Denn sollten die Rebellen an die Macht kommen, fürchtete man, so würden sie sich höchstwahrscheinlich für die jahrelange israelische Unterstützung der äthiopischen Regierung an den Juden rächen. Schon im Juli vergangenen Jahres begannen jüdische Organisationen die „Falaschen“ dazu zu ermuntern, ihre Dörfer im Norden Äthiopiens zu verlassen und sich in die Obhut der israelischen Botschaft in Addis Abeba zu begeben. Rund 15.000 waren dort, als vergangenen Freitag „Operation Salomon“ gestartet wurde, um innerhalb 33 Stunden den jahrhundertelangen Aufenthalt der Juden in Äthiopien zu beenden. Dennoch ist es unwahrscheinlich, daß die israelische Präsenz in Äthiopien damit beendet wird. In den vergangenen Wochen mehren sich die Zeichen, daß auch eine neue, von den Rebellen geführte Regierung in Addis Abeba ein gutes Verhältnids zu Israel anstreben wird.

Israels Einfluß in Washington ist durch die „Operation Salomon“ kaum gewachsen. Denn durch die Hilfe, welche die Bush-Administration dafür leistete — nur durch amerikanische Vermittlung wurden sowohl die Nachfolger Mengistus wie auch die Rebellen dazu gebracht, den Flughafen von Addis Abeba so lange in Operation zu lassen, bis die Juden weg waren — hat Washington ein neues Druckmittel bekommen, um Israel zur Nachgiebigkeit im Friedensprozeß zu bewegen. Nach ihrem persönlichen Einsatz für die äthiopischen Juden sind George Bush und James Baker vor Vorwürfen der proisraelischen Lobby geschützt, eine antiisraelische Politik zu verfolgen. Darüber, daß Bush diesen Vorteil ausnützen will, besteht kein Zweifel. Noch im selben Telefongespäch, als er Jitzhak Schamir zum Erfolg der Rettungsaktion gratulierte, bat Bush darum, daß die neuen Israelis nicht in den besetzten Gebieten angesiedelt werden. Als es darum ging, die äthiopischen Juden zu holen, schafften es die Israelis, das Geheimnis für sich zu behalten. Sollte Beta Jisrael nun seinen Weg auf der Westbank weitermachen, wird die Geheimhaltung schwieriger sein.