Langer Lauf oder kurzes Rohr?

Im „Lotta continua“-Prozeß tritt das Gericht aus der Revisions- in die Berufungsverhandlung ein/ Adriano Sofri fehlt  ■ Aus Mailand Werner Raith

Der Kollege der NBC, frisch eingeflogen, kann sich gar nicht genug wundern: „Und das soll so etwas wie ein Jahrhundertprozeß sein, eine Aufarbeitung der linken Bewegung?“ Er zeigt auf die eher sachliche Atmosphäre im Mailänder Tribunal, wo derzeit der Prozeß wegen der Ermordung des Kommissars Luigi Calabresi 1972 in zweiter Instanz verhandelt wird; zwei ehemalige Führer der Studenten- und Arbeiterorganisation „Lotta continua“, Giorgio Pietrostefani und Ovidio Bompressi, kämpfen gegen die wegen Anstiftung zum Mord verhängten 22 Jahre, die ihnen die Aussagen eines angeblichen Mittäters, Leonardo Marino, eingebracht haben. Der NBC-Kollege sucht verzweifelt nach den Protagonisten „von damals“, die er in seinem Notizbuch seitenweise aufgelistet hat. „Der Sofri ist ja nicht einmal im Zuschauerraum“: Und: „Kommt der Boato? Der Langer?“ Doch die alten Kämpen, die im Verfahren der ersten Instanz geradezu rudelweise aufgetreten waren, lassen sich kaum sehen. „Da wäre ich wohl besser zum Prozeß Moro nach Rom gefahren“, brummelt der Fernsehmann: dort wird der vorläufig letzte Prozeß gegen die Roten Brigaden zelebriert.

Dort wie hier zeigt sich jedenfalls, daß Ex-Genossen wie Presse am Verfahren schnell das Interesse verlieren, wenn die Ober-Capi fehlen. Im Calabresi-Prozeß fehlt der bekannteste der erstinstanzlich Verurteilten, der Publizist Adriano Sofri, den der Kronzeuge Marino beschuldigte, den Mord an Calabresi in Auftrag gegeben zu haben. Und so rutschte die Aufmerksamkeit, die den Prozeß in erster Instanz voriges Jahr noch Tag für Tag in die Titelseiten katapultiert hatte, weitgehend ab. Zwar hatten die meisten Zeitungen und Magazine korrekt über den nahenden Prozeßbeginn berichtet, auch war ein von dem Historiker Carlo Ginzburg veröffentlichtes Buch über den Fall gebührend gewürdigt worden. Doch die Luft war raus, als sicher war, daß Sofri seine Ankündigung wahrmachen würde, am Prozeß nicht teilzunehmen und bei seiner Verweigerung einer Revision blieb, ja dazu sogar seinem Verteidiger das Mandat entzog. Damit ergab sich zwar eine einmalige Konstellation: an sich ist das Urteil gegen ihn nun rechtskräftig und damit nur in einem Wiederaufnahmeverfahren aufhebbar, andererseits: was geschieht, wenn die zweite Instanz das erste Urteil gegen die angeblichen Mittäter wegen Unglaubwürdigkeit des Kronzeugen aufhebt? Doch dies alles interessierte eher die Advokaterei, die alten Genossen breiteten die Hände aus und gaben den Fall irgendwie verloren.

Das Verfahren stolperte seither in absoluter Routine dahin; die meisten Presseberichterstatter sammeln sich lieber an der nahen Espressobar als im Gerichtssaal: der Gerichtshof, eine eindrucksvolle Schlange von Berufs- und Laienrichtern, ist im wesentlichen mit Marschieren beschäftigt: Rein ins Beratungszimmer, raus aus dem Beratungszimmer, Antrag abgeschmettert, neuer Antrag, rein ins Beratungszimmer, raus aus dem Beratungszimmer, Antrag abgeschmettert und so weiter. Zurückgewiesen der Verteidigereinwand gegen den Gerichtssitz (wegen möglicher Pressionen seitens der Öffentlichkeit), gegen das Gericht insgesamt (wegen einer Solidaritätsadresse an die erste Instanz), zurückgewiesen der Versuch der Verteidigung, neue Zeugen zu benennen und damit die Revisionsinstanz — die nur zur Klärung der Frage verfahrens- und strafrechtlicher Korrektheit dient — zur Berufungsstelle zu machen, bei der auch noch der Tatbestand als solcher überprüft wird. Die Zeugeneinvernahme, so das Gericht, sei in erster Instanz ausreichend gewesen, neue Erkenntnisse wären nicht zu erwarten. Die Verteidiger murren, der Staatsanwalt nickt befriedigt, die Nebenkläger ebenfalls: sie vertreten die Angehörigen des Kommissars und die haben natürlich nicht viel Lust, erneut all die Vorwürfe anzuhören, die immer wieder gegen den als brutal geltenden Polizisten auftauchen. Die Linke hatte ihm damals den ungeklärten Sturz eines Anarchisten aus dem Polizeigefängnis in Mailand angelastet.

So sitzen wir denn auch nur zu dritt im Saal, als die Kammer zum x-ten Male aus dem Beratungszimmer tritt: der Antrag der Verteidigung, ein Gutachten zur Frage der Schußwaffe erstellen zu lassen, wird — angenommen. Im Nu ist es proppevoll: die Sensation ist da, denn das bedeutet Wiedereintritt in die Tatbestandsdiskussion. Die Nebenklägervertreter raufen sich die Haare, der Staatsanwalt versucht gute Miene zu machen, das Gericht duckt sich hinter die imposante Barriere zum Volk und versucht unsichtbar zu werden. Dann vertagt es die gesamte Verhandlung auf den 13. Juni.

Das Gutachten mußte wohl gestattet werden: unverzeihlicherweise — und dies hätte wohl in anderen Ländern sofort die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils bedingt — hatte das untere Gericht zu klären vergessen, ob es sich bei der Tatwaffe um eine Smith & Wesson mit langem Lauf gehandelt hat, wie das der Kronzeuge behauptet, oder um eine mit kurzem Rohr, wie die Verteidigung aufgrund einer von ihr eingeholten Expertise mutmaßt. Stellt sich die Version der Verteidiger als richtig heraus, dürfte die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen, sowieso schon durch zahlreiche Widersprüche gekennzeichnet, völlig dahin sein.

Doch so ganz einfach wird sich die Sache nicht entwickeln. Zwar verfügt der nun vom Gericht beauftragte Sachverständige, der Ingenieur Domenico Salza, Direktor der „Banca nazionale di prova“ in Val Trompia bei Brescia, über eine gute Reputation, auch hat er bereits vor 18 Jahren, nach dem Mord, ballistische Untersuchungen über die Projektile angestellt. Doch gerade er zeigte sich nach der Beauftragung eher skeptisch: „Die Elemente, die ich zur Verfügung habe, werden wohl kaum ausreichen, diese Frage definitiv zu klären.“ Andererseits haben die Verteidiger Gegengutachter bestellt — und dabei möglicherweise nicht gerade die Allervertrauenswürdigsten erwischt. Pietrostefani hat sich Luigi Baima Ballone ausgesucht, dessen bekannteste Leistung eine Untersuchung des „Gewandes des Erlösers“ von Turin ist; Bompressis Verteidiger haben den venezianischen Spezialisten Marco Morin benannt, und der verfügt nun über einen etwas sonderlichen Ruf: so soll er nach bisher nicht dementierten Presseberichten bei Gutachten über rechtsextremistische Anschläge fleißig Beweise gefälscht und unzutreffende Ergebnisse vorgelegt haben, auch soll er Mitglied der Nato-Geheimstruktur „Gladio“ gewesen sein.

So wird der NBC-Kollege am Ende möglicherweise doch noch zu einer schönen Story kommen: dann nämlich, wenn die Staatsanwaltschaft gezwungen wird, den bisher von den Behörden gehätschelten und gerne für staatstragende Gutachten herangezogenen „Experten“ aus dem Gladio-Ambiente unglaubwürdig zu machen.