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Engholms Klassenziel: Rückkehr an die Macht

■ Mit fast einstimmiger Wahl bereiteten die Delegierten Björn Engholm einen fulminanten Start als Parteivorsitzenden. Beifall auch für die Rede, in der der neue SPD-Chef die Eckpunkte künftiger...

Engholms Klassenziel: Rückkehr an die Macht Mit fast einstimmiger Wahl bereiteten die Delegierten Björn Engholm einen fulminanten Start als Parteivorsitzenden. Beifall auch für die Rede, in der der neue SPD-Chef die Eckpunkte künftiger SPD-Politik skizzierte.

AUS BREMEN MATTHIAS GEIS

Sisyphos — ein neuer Held in der langen sozialdemokratischen Ahnenreihe? Björn Engholm jedenfalls stellte den mythologischen Helden, der unentwegt und vergeblich den Felsblock bergauf rollt — wo er ihm dann immer wieder entgleitet —, ans Ende seiner Kandidatenrede. Eine doppeldeutig-brisante Identifikation immerhin für einen, der sich gerade die inhaltliche und organisatorische Modernisierung der SPD, ihre Öffnung nach allen Seiten der Gesellschaft und zugleich ihre Rückkehr an die Macht zur Aufgabe gestellt hat. Mit Camus interpretierte Engholm Sisyphos als Sinnbild dafür, daß „ein Leben voller Mühe lohnenswert ist“. Daß sich Engholm am Ende seiner einbindend-harmonisierenden Rede damit auch noch das Vogelsche Arbeitsethos zu eigen machte, kam wohl auch für die Delegierten einigermaßen überraschend. Doch der Parteitag nahm Engholms Angebot an, die SPD zu einer zukunftsoffenen, kulturell aufgefrischten, verantwortungsbewußten und arbeitsamen Partei umzuformen.

Mit 97,4 Prozent der Stimmen erreichte Engholm — „im ersten Wahlgang“, wie er feixte — ein Traumergebnis, ein Maß an Zustimmung, das skeptisch stimmt und doch nicht überraschte. Denn mit seiner Rede hatte Engholm zuvor eineinhalb Stunden lang nach allen Seiten, innerhalb und außerhalb der Partei die Arme ausgestreckt: der moderne, umweltbewußte Unternehmer, der innovative Manager gehören ab sofort ebenso zum Adressatenkreis der Sozialdemokraten wie die „kleinen Leute, die die SPD und diesen Staat groß gemacht haben“. Kritische Intelligenz und Gewerkschafter, die Hochqualifizierten und die Armen der Gesellschaft, die Handwerker und Künstler, die Jungen und die Alten, sie alle lud Engholm ein, mit der SPD den Dialog aufzunehmen, am Projekt der „SPD als offener Partei“ mitzuwirken oder sich zumindest von ihr inspirieren zu lassen. Wehtun, das war deutlich, wollte Engholm niemandem. Eher präsentierte er sich als neuer Moderator der Partei, der verspricht, alle Interessen und Anliegen für das gemeinsame Projekt ernstzunehmen.

Empfehlung an die Unternehmerschaft

Unter den Programmpunkten „soziale Einheit“ und „neue Ära innerer Reformen“ ging Engholm allerdings kaum über bekannte SPD-Vorschläge hinaus. Von Beschäftigungsgesellschaften bis Infrastrukturprogramm hakte er die Liste ab. Deutlicher noch als erwartet fiel allerdings sein Versuch aus, die SPD der bundesdeutschen Unternehmerschaft zu empfehlen. Fast eine kleine Eloge, mit prägnanten Formeln: „Wer im internationalen Wettbewerb vorn sein will, muß technologisch vorn sein.“ Die Gewerkschaften kamen an diesem Tag erst an zweiter Stelle. Die SPD dürfe „weder ein closed shop, noch eine Partei dogmatischer Bekenntnisse“ werden, kritisierte Engholm behutsam alte Traditionen. Er plädierte für eine SPD der Diskussion, „die aufnimmt und widerspiegelt, was unsere Gesellschaft beschäftigt“. Zugleich aber, so kontrastiert er das etwas vage Credo, dürfe sich die Partei „nicht verzetteln“.

Engholm präsentierte sich als ideeller Gesamtvorsitzender, und in der bedächtig-nachdenklichen Art seines Vortrags wirkte er bei diesem Versuch durchaus überzeugend. Doch die Gefahr, daß Engholms Konturen dabei verschwimmen, daß er, um keine Türen zuzuschlagen, auch die eigene Position moderiert und verwässert, wurde bei seinem gestrigen Einstand erkennbar. Gerade eine halbe Minute lang widmete er sich dem zentralen Streitpunkt des Parteitages, der seit Wochen die Partei spaltet. Unter dem Stichwort „Mit Europa für die Welt“ (Punkt 5), raffte er sich zu der lapidaren Bitte „um ein klares Votum für die Beteiligung deutscher Soldaten an friedenserhaltenden Maßnahmen auf“. Den schwierigen Versuch, seine Position zu begründen und die Delegierten von dieser Position zu überzeugen, überließ er Willy Brandt.

Der wucherte dann mit dem Pfund seiner internationalen Erfahrung und seines Ansehens, absolvierte eine tour de force über den Globus, leitete aus der sozialdemokratischen Friedens- und Europapolitik, aus der gewachsenen Verantwortung Deutschlands und den neuen Chancen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Maxime ab: „Es lohnt sich mitzutun, nicht abseits zu stehen, sondern Einfluß zu nehmen.“ Solche suggestiven Botschaften streute er an mehreren Stellen seiner Rede ein — bei der Solidarität mit den osteuropäischen Staaten, der Hilfe für die Sowjetunion oder bei der Reform der UNO. Raffiniert und behutsam zugleich versuchte er seine Zuhörer zum entscheidenden Punkt, ganz am Ende seiner Rede, zu führen, den er dann in eine lapidare Formulierung kleidete: „Humanitäre, konflikt- ausräumende, friedenswahrende Missionen im Auftrag der UNO lassen sich — wenn man denn von kompetenter Seite darum gebeten wird — wirklich nicht gut ablehnen.“ Von „deutschen Expeditionskorps“ könne keine Rede sein, und im übrigen, so Brandt, habe es sich „wohl auch herumgesprochen, daß Blauhelme nicht mit Atomraketen zu verwechseln sind.“

Brandt: Europas Energien bündeln für die UNO

Doch der Funke sprang nicht über, der Beifall blieb spärlich wie lange nicht mehr bei einer Parteitagsrede des Ehrenvorsitzenden. An diesem Tag schien es, als redete Brandt gegen eine Wand, an der die ziselierte, oft ein wenig müde-witzig aufgelockerte Argumentationslinie abprallte. Beifall erhielt er dort, wo er sich kritisch auf den Golfkrieg bezog. „Das Golf-Modell Schule machen zu lassen, wo eine Supermacht das Heft in die Hand nahm, kann ich nicht anraten.“ Dort aber, wo er die Kollektivverantwortung der Völkergemeinschaft einklagte, die er mit einer zukünftigen Stärkung der Weltgemeinschaft verband, blieb die Zustimmung spärlich. „Was könnte lohnender sein“, so Brandts letzter Anlauf, „als die UNO auf die Beine zu helfen und Europas Energien auch hierfür zu bündeln?“ Er habe erlebt, wie Hitler-Deutschland im Genfer Völkerbund „die Tür laut hinter sich zuschlug“ und wie vierzig Jahre danach zwei deutsche Staaten UNO- Mitglieder wurden, „bis eine veränderte weltpolitische Lage die UNO ein Mitglied kostete und Deutschland gestiegenen internationalen Erwartungen gegenüberstand“.

Am gestrigen Morgen hat Brandt dem frisch gekürten Vorsitzenden die erste, große Kärrnerarbeit abgenommen. Doch wenn der Parteitag heute das Ansinnen des Vorstands nach einer Grundgesetzänderung ablehnen sollte, dann hätte auch Engholm die erste gravierende Niederlage seiner kurzen Amtszeit einzustecken. Auch an weiteren schwierigen innerparteilichen Aufgaben mangelt es nicht. Ob Engholms behutsames Integrationstalent ausreicht, um Oskar Lafontaine zur Loyalität zu bewegen, ist offen; ebenso, ob es ihm gelingt, die auseinanderdriftenden Machtzentren von Partei, Fraktion und selbstbewußten SPD-Ministerpräsidenten zusammenzuhalten. Wie wird sich der Traditionsverein dem attraktiven Ideal einer weltoffenen, neugierigen, innovativen Sozialdemokratie annähern; wird sich der schwelende Konflikt zwischen Ost- und Westpartei schlichten lassen? Und: Werden die Wähler aller Schichten und Wertorientierungen, in Ost und West, um die Engholm in seiner Rede warb, auf das Angebot eingehen? Fragen über Fragen — an Sisyphos?

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