Von Comics lernen

■ »Dante in the Elevator« — ein Stück für 17 Personen und 1 Aufzug

Es gibt nicht wenige von denen, die die Funktion eines Paternosters nie verstanden haben, seitdem sie ihm zum ersten Mal begegnet sind: Was passiert im Verborgenen oben und unten, und warum kommen die Fahrgäste, die munter auf- und abwärts schweben, nicht auf den Kopf gestellt wieder herunter?

Einige der letzten rätselhaften Exemplare dieser vom Aussterben bedrohten Art der Fortbewegungsmittel hat Lindy Annis ausfindig gemacht. Alice in the Elevator hieß das nach Carolls Wunderland-Alice konzipierte Stück, das die seit Jahren in Berlin umtriebige Performance- Künstlerin im September letzten Jahres im ehemaligen Sitz des ZK der SED aufgeführt hatte. Für einmal nun zog Annis in das Gebäude des Senators für Bau- und Wohnwesen nach Wilmersdorf. Dante in the Elevator heißt es und ist »ein Stück für 17 Figuren und einen Paternoster«. Und was lag näher, als dem hypnotisierenden Auf und Ab der Kabinen ein Buch der Weltliteratur hinzuzufügen, das zwischen Himmel und Hölle spielt? Nichts geringeres als Dantes »Göttliche Komödie« gleitet an dem Publikum vorbei, das in mehreren Etagen verteilt auf den Stufen und Absätzen hockt.

»Es kann überhaupt nix schiefgehen. Schließlich haben wir einen Klassiker gewählt«, versucht Virgil im braunen Anzug dem Publikum gleich zu Beginn den vermeintlichen Widerspruch zwischen literarischem Olymp und Praxis der Aufführung nahezubringen. Und während der Conferencier nach oben bewegt wird, pirscht sich erleichtertes Lachen über die Treppen, beginnt unten, setzt sich vom ersten Stock in den nächsten fort und so weiter.

Damit ist das Prinzip von Dante in the Elevator schon offenbart. Eins wird zum anderen kommen, aber keine Kette aneinandergereihter Szenen bilden. Statt dessen multipliziert sich das Geschehen in seiner Gleichzeitigkeit. Den Ohren bleibt nichts von dem verborgen, was in den Paternosterkabinen in der Höhe der Etagen passiert, die dem Auge nicht zugänglich sind. Während der Musiker epiloghalber sein Cello durch die Stockwerke fährt, schweben Koffer, Stuhl, Einkaufswagen und eine auf das Publikum gerichtete Kamera links herab (rechts hinauf), gefolgt von Lindy Annis (von oben), die wie immer sympathisch groß beschuhten Füße voran. »I'm fallin'«, sagt sie immer wieder, auch als sie auf der anderen Seite wieder emporgleitet — »This is the worst fall I ever had«, tönt es noch aus dem Unbekannten, als in einer weiteren Kabine schon die nächste der 17 Figuren vorüberzieht.

Der Geschichte von einem, der auszog, in den Kreisen der Hölle das Fürchten zu lernen und über den Läuterungsberg den Weg in den Himmel zu finden, wird die Aura des Erhabenen genommen. Kurzerhand wird sie zum Comic erklärt. Weil im Bildhaften, Einfachen die Wahrheit liegt. Jeder der Beteiligten stellt nur einen Typus dar: ein zeternder Verwaltungsbeamter, einer, der sich beim Lesen schwermütiger Gedichte in Schmerzen ergeht, einer, der pöbelt, wie schrecklich ein anderer sei, und einer, der morgens nicht aufstehen kann, nehmen den Platz der antiken Fabelwesen, der Geizigen, Verführer und Diebe ein. Alte Bekannte geben sich bei diesem Ringelpiez ein Stelldichein: unter anderem Butzmann, Kapielski, Netzer und Aljinovic. Man führt also nicht nur Dante auf, sondern auch die Erinnerung an die Performance- und Tanzfamilie aus alten Tagen, als Off-Kultur auch noch Underground bedeutete. Daß diese Zeiten vorbei sind, signalisiert am Umschlagspunkt, dem Läuterungsberg, Jungkünstler Thomas Eller, der seine gern postmodern wirken wollenden Papp-Abbilder seiner selbst von der eigenen Person gefolgt auf Reisen schickt.

So geht es eine reichliche Stunde. Die wenigen Längen fallen kaum ins Gewicht, denn die perfekt komponierte Szenen/Text/Musik-Kombination versetzt in einen ähnlich meditativen Nicht-Zustand, wie er sich auch nach dem Dauergebrauch von Philip Glasscher Musik einstellt. Dante in the Elevator ist nicht Theater, nicht Kino, nicht Bilderbuch oder Fotoalbum, sondern von allem etwas. Auf unstrapaziöse Weise wird hier ein Schlagwort aus dem Literaturlexikon populär gemacht — es läßt sich lernen, daß es in den neun Höllenkreisen schlimm zugeht, der Weg auf den Berg beschwerlich und um so lichter das Dasein im Angesichts Gottes ist.

Und auch das Geheimnis des Paternosters lüftet sich. Am Ende der Vorstellung darf das Publikum in das Schwebgestühl springen. Nur soviel sei verraten: Es geht nicht mit dem Teufel zu, wenn die Passagiere nicht auf den Kopf gestellt in entgegengesetzter Fahrtrichtung wieder auftauchen. Claudia Wahjudi

Noch am 31.5. und 1.6., jeweils um 20 und um 21 Uhr, Hohenzollernplatz 6, 1-31