: Integration, nicht Assimilation
Kongreß des Europarates und des Amtes für Multikultur in Frankfurt zur Multikultur in der Stadt/ „Weltoffenheit“ als „Aufgabe unserer Zeit“/ Blaul fordert eigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen: „...sind nicht die Gepäckstücke der Männer“ ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Frankfurt/Main (taz) — „Europa hat sich zu einem Einwanderungskontinent entwickelt. Mit Ausnahme von Island und Irland stehen alle Länder der EG und der EFTA Einwanderungsbewegungen gegenüber, zum einen aus Süd- und Osteuropa, zum anderen aus Ländern der Dritten Welt, insbesondere aus Nordafrika und dem Vorderen Orient. Auf der internationalen Konferenz „Europa 1990 bis 2000 — Multikultur in der Stadt“ in Frankfurt widersprach keine(r) der rund zweihundert TeilnehmerInnen aus dem In- und Ausland dem Thesenvorschlag des Multikulturdezernenten Daniel Cohn-Bendit zur Formulierung einer gemeinsamen Erklärung zu einer neuen kommunalen Migrationspolitik in Europa. Im Gegenteil: Die Kongreßteilnehmer aus allen Teilen Europas und aus diversen Entwicklungsländern forderten von den nationalen Regierungen die politische und rechtliche Akzeptanz der multikulturellen Gesellschaften in den prosperierenden Ländern des Kontinents. Insgesamt drei Tage tauschen sich die kommunalen und regionalen Magistralen, geladen von der „Ständigen Konferenz der Gemeinden und Regionen Europas“ (SKGRE) im Europarat und das Amt für multikulturelle Angelegenheit im Frankfurter Messesaal „Europa“ aus.
„Weltoffenheit ist die Aufgabe unserer Zeit“, sagte die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Liselotte Funke, zur Eröffnung der Konferenz. Das Leben in einer „Welt der Wanderungsbewegungen“ impliziere die Akzeptanz der gewachsenen multikulturellen- und multireligiösen Gesellschaften: „Es gibt keine Rückkehr zur homogenen Gesellschaft.“
Frau Funke, die Wert auf die Feststellung legte, daß sie auf der Multikulturkonferenz nicht für die Bundesregierung, sondern für Liselotte Funke spreche, stärkte den europäischen Kommunen, die „den Löwenanteil an der Integrationsarbeit leisten“ und die das Wort „Multikultur“ erst hoffähig gemacht hätten, den Rücken. Integration dürfe nicht mit Assimilation verwechselt werden: „Niemand darf entwurzelt werden.“ Integration sei vielmehr ein Entwicklungsprozeß. Vor allem die Menschen im Osten von Deutschland müßten lernen, mit ausländischen MitbürgerInnen zusammen zu leben.
Viel Beifall spendete das Auditorium der hessischen Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, Iris Blaul, die zur Kongreßeröffnung die Einrichtung eines „Büros für Einwanderer und Flüchtlinge“ in ihrem Ministerium für den Januar 1992 ankündigte. Blaul will den „Dialog zwischen Einheimischen und Ausländern“ organisieren, sich in Bonn für die Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes einsetzen und die Einbürgerungsvorschriften entstauben. Die Ministerin klage ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für die Ehefrauen ausländischer Arbeitnehmer ein, denn „die Frauen sind nicht Gespäckstücke ihrer Männer!“
Daß vor allem die westeuropäischen Staaten vor einer Einwanderungswelle von bislang ungeahntem Ausmaß stehen, erläuterte im Anschluß an Ministerin Blaul die Fachberaterin der SKGRE, Annie Vidal, von der Universität Grenoble. Dabei würden die Bürgerer und Bürgerinnen aus den osteuropäischen Staaten zunehmend die Armutsflüchtlinge aus der südlichen Hemisphäre verdrängen — „wenn sich die ökonomischen Verhältnisse in Osteuropa nicht rasch ändern“.
Südeuropäische Länder wie Griechenland, Spanien oder Portugal, aus denen vor Jahren noch Arbeitsemigranten in die reichen Industrieländer West- und Nordeuropas gekommen seien, würden zunehmend selbst zu Immigrationsländern für Nordafrikaner und Osteuropäer aus Bulgarien, Albanien und Rumänien. Rund 3.000 Albaner, so eine Kongreßteilnehmerin aus Athen, würden täglich nach Griechenland einreisen: „Wir schicken die zwar zurück, aber am nächsten Tag sind sie wieder da.“ Eine Migrantenpolitik gibt es in Griechenland (noch) nicht — „und die Probleme wachsen uns über den Kopf“.
Auch die Türkei ist inzwischen zum Einwanderungsland geworden. Vor allem irakische Kurden und Bulgaren kommen illegal über die Grenzen und suchen in den Großstädten Istanbul oder Ankara Arbeit.
Die Konzentration der Migranten in den urbanen Zentren hat die europäischen Großstädte unter gewaltigen Problembewältigungsdruck gesetzt. Die Kommunen und die regionalen Gebietskörperschaften müssen, oft ohne legislatorische und institutionelle Kompetenzen, die ankommenden Menschen unterbringen, die Aufenthaltsbedingungen klären und die Integration organisieren. Am gestrigen zweiten Konferenztag berichteten VertreterInnen von zehn sogenannten besonders gelobten Musterstädten — von Anderlecht in Belgien über Bologna in Italien bis zu Göteborg in Schweden — deshalb über ihre praktischen Erfahrungen in der kommunalen Migrationspolitik.
Heute soll von den KongreßteilnehmerInnen auf der Basis der Erfahrungsberichte und der analysierten Defizite eine gemeinsame Erklärung zu einer neuen, europaweiten kommunalen Migrationspolitik verabschiedet werden — „damit das ethnisch-völkische Element, das sich im Jus sanguinis ausdrückt, demnächst in Europa keine Rolle mehr spielt“, so der Frankfurter Multikulturreferent Cohn-Bendit.
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