: „Wir haben große Angst vor dem 1. Juli“
Für Zehntausende von Flüchtlingen aus Krisengebieten laufen am 30.6. die Duldungspapiere ab/ Innenministerkonferenz beschloß keine Verlängerung/ Tamilen, Libanesen, Kurden und Iraner von Massenabschiebung bedroht ■ Aus Bremen Dirk Asendorpf
„Wenn sie uns jetzt wieder wegschicken, dann waren die fünf Jahre in Deutschland nichts als verlorene Zeit.“ Mussa Dahsin ist mit seiner Frau und drei kleinen Kindern am 23.1.1986 nach Bremen gekommen — genau 24 Tage zu spät, um am 1.Juli 1991 in den Genuß eines dauernden Aufenthaltsrechts zu kommen. Weil die Familie Dahsin auf ihrer Flucht vor dem Bürgerkrieg im Libanon erst nach dem Stichtag 31.12.1985 in Deutschland landete, soll sie jetzt in den Libanon zurückgeschickt werden.
Sein Fall ist typisch für viele der bundesweit mehreren zehntausend Flüchtlinge aus Sri Lanka, Kurdistan, dem Libanon, dem Iran und asiatischen und afrikanischen Ländern, deren „Duldung aus humanitären Gründen“ ab dem 1. Juli nicht mehr verlängert werden soll. Am 3.Mai hatte — von der Öffentlichkeit bisher weitgehend unbeachtet — die Innenministerkonferenz des Bundes und der Länder das Thema beraten und keinen Beschluß über einen weiteren Abschiebestopp gefaßt. Nach dem seit Anfang des Jahres gültigen Ausländergesetz laufen die bisher üblichen Duldungen für Flüchtlinge aus Krisenregionen damit automatisch am 30. Juni aus.
Nur Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble könnte nun noch in letzter Minute für einzelne Krisenregionen wieder Ausnahmeregeln verordnen. Der Bremer Innensenator geht derweil jedoch nicht davon aus, daß das passieren wird. „Die Duldungen laufen am 1. Juli aus, eine Verlängerung ist dann nicht mehr möglich“, teilte sein Sprecher in dieser Woche lapidar mit. In den vergangenen Jahren konnten Flüchtlinge als sogenannte „De-facto- Flüchtlinge“ auch dann in Deutschland bleiben, wenn ihre Anträge auf politisches Asyl rechtskräftig abgewiesen worden waren.
Ausnahmen von dieser größten Flüchtlingsvertreibungsaktion der Nachkriegszeit wird es dann nur noch für „chinesische Wissenschaftler, Studenten und andere Auszubildende“, für Flüchtlinge aus Äthiopien und Afghanistan und für Christen und Yeziden aus der Türkei geben.
Zudem bekommen alle Flüchtlinge, die bereits vor dem 31. Dezember 1985 in die Bundesrepublik gekommen sind, ein gesichertes Aufenthaltsrecht, kurdischen Flüchtlingen wird eine um drei Monate verlängerte Ausreisefrist bis zum 30. September 1991 gesetzt.
„Die Libanesen in Bremen haben jetzt große Angst“, kann Mussa Dahsin berichten. Sie haben von dem Abschiebe-Beschluß nur indirekt erfahren, als sie feststellten, daß ihre Duldungspapiere gleichlautend nur noch bis zum 30. Juni verlängert wurden. Bisher gibt es noch keinerlei offizielle Erklärung darüber, wie die Massenabschiebung der Flüchtlinge seitens der Länder überhaupt organisiert werden soll.
Trotzdem haben die ersten Familien bereits ihre Koffer gepackt und sind so schnell wie möglich zurück in den Libanon gefahren. „Vor allem die Familien, die erst vor kurzem hergekommen sind, wollen sich dort jetzt noch Wohnung und Arbeit suchen, bevor ab 1. Juli die große Abschiebewelle aus Deutschland heranrollt“, vermutet Mussa Dahsin.
„Manchmal denke ich, es ist ein Gerücht
„Manchmal denke ich, das Ganze ist vielleicht wieder so ein Gerücht, wie wir es in den vergangenen fünf Jahren schon oft gehört haben“, versucht sich der libanesische Flüchtling manchmal zu beruhigen, widerspricht sich dann aber gleich selber: „Nein, diesmal ist es anders. Früher entstanden die Gerüchte immer, wenn sich die Lage im Libanon einmal für ein paar Wochen etwas stabilisiert hatte. Aber diesmal hat es ja gar nichts mit der Lage im Libanon zu tun.“
„Der Aufenthalt des Inhabers dieser Bescheinigung wird wegen der besonderen Lage in seinem Heimatland geduldet“, hat die Bremer Ausländerbehörde in Mussa Dahsins Duldungspapier gestempelt, „soweit sich diese Lage nicht ändert, wird die Gültigkeit der Duldung verlängert.“ Ein Versprechen, das jetzt nicht mehr gehalten werden soll. Denn an der Lage im Libanon hat sich noch immer nichts Wesentliches geändert. Mussa Dahsins südlibanesisches Heimatdorf ist weiterhin von Israel, der Rest des Landes von Syrien besetzt. „Noch nicht einmal der Präsident ist bisher in seinen zerbombten Palast zurückgekehrt“, sagt Dahsin. Geändert hat sich jedoch die deutsche Politik gegenüber den bislang geduldeten Flüchtlingen aus Krisengebieten. Galt es bislang als inhuman, Menschen mitten in einen Bürgerkrieg hinein abzuschieben, soll dies ab 1. Juli gängige Praxis werden.
Besonders hart trifft die geplante Massenabschiebung auch viele Kinder und Jugendliche, die in Deutschland eine Schul- oder Berufsausbildung begonnen haben. Der Bremer Anwalt Albert Timmer berichtet von einem seiner Mandanten: Der 17jährige Hassan war Ende 1985 mit seinen Eltern und fünf Geschwistern aus dem Libanon geflohen. Mehrere Geschwister haben die Kämpfe um das Flüchtlingslager Schatilla, in dem die Familie als staatenlose Palästinenser leben mußten, nicht überlebt. Ein Bruder war noch zwei Wochen vor der Flucht von Milizen erschossen worden.
Anfang 1986 in Deutschland angekommen, lernte Hassan schnell Deutsch und macht jetzt gerade seinen Realschulabschluß. Mit einem guten Halbjahreszeugnis in der Hand hat er bereits die feste Zusage, im Sommer eine Lehrstelle als Automechaniker in Bremen antreten zu können. Stolz berichtete er im April seinen Freunden davon.
Doch die Abschiebung zum 1. Juli wird einen Strich durch seine Lebenspläne machen. Hätte es seine Familie auf der Flucht nach Deutschland nur ein paar Kilometer weiter ins niedersächsische Umland verschlagen, dann wäre alles anders gekommen. Als einziges Bundesland hatte das rot-grüne Niedersachsen Ende 1990 die letzte Chance vor Inkrafttreten des neuen Ausländergesetztes genutzt und 22.000 „De-facto Flüchtlingen“ ein festes Aufenthaltsrecht verschafft. „Ich habe jetzt fünf Jahre dagesessen und nichts getan“, sagt Mussa Dahsin resigniert. Und trotzdem war ihm die durch das Arbeitsverbot verordnete Langeweile lieber als das, was jetzt kommt: „Immerhin hat mir Deutschland auch fünf Jahre lang das Gefühl gegeben, in Sicherheit zu sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen