Die Grenzen der Phantasie

Die innenpolitischen Debatte auf dem SPD-Parteitag geriet zu verzweifeltem Plädoyer für mehr Phantasie  ■ Aus Bremen Matthias Geis

Mit einem klaren deutschlandpolitischen Profil ein Signal nach Osten zu senden, stand gestern ganz oben auf der Liste des Bremer SPD-Parteitages. Und daß die SPD die „politische Phantasie und Kraft“ aufbringt, „die wir gerade jetzt im vereinten Deutschland brauchen“, daran wollte Johannes Rau, Eröffnungsredner der innenpolitischen Debatte auch gar keinen Zweifel aufkommen lassen. Doch auch Phantasie hat ihre Grenzen, die kurz nach Rau der Delegierte Kurt Neumann aus Berlin Steglitz mißachtete. „Brauchen wir“, so seine Frage, „auch eine Umverteilung von West nach Ost bei den Arbeitsplätzen, um die soziale und gesellschaftliche Spaltung nicht noch weiter zu vertiefen?“ Neumanns Antwort war ebenso klar wie die Reaktion der Ost-Delegierten in Bremen: „Ja, Genossen, das wird so sein müssen.“ — Die meisten NRW- Delegierten reagierten mit eisigem Schweigen. Neumann hatte die donnernden Ermutigungen Raus an die Menschen im Osten — „Wir können es mit vereinten Kräften schaffen!“ — offensichtlich falsch verstanden.

In dem zentralen innenpolitischen Antrag des Parteitages „Deutschland in neuer Verfassung“, mit dem die Engholm-SPD ihre Kompetenz bei der Überwindung von ökonomischer Krise und ökologischem Notstand in den neuen Ländern unter Beweis stellen will, zeugt durchaus von Problembewußtsein: „Angesichts des Reichtums unserer Gesellschaft sind Massenarbeitslosigkeit und Spaltung unseres Landes Folgen eines politischen Versagens, das auf Dauer die Demokratie gefährdet.“ Doch die neue Politik, mit der sich die SPD empfiehlt, ist die alte, die zum Teil bereits auch von der Bundesregierung praktiziert wird: so beispielsweise die „außergewöhnliche Investitionsförderung“ und Sanierung der Betriebe statt Privatisierung und Liquidierung.

Während der Debatte wurde das Problem der SPD überdeutlich, ohne daß es ins Zentrum rückte: Liegt die Priorität sozialdemokratischer Politik trotz aller Solidarapelle nach wie vor auf der Interessenvertretung ihrer traditionellen Klientel, oder steht die Forderung „Umverteilung von West nach Ost“ auch dann noch an erster Stelle, wenn es Gewerkschaften und Arbeitnehmer betrifft? Doch die Mehrheit der Redner drückte sich um den Zielkonflikt und pflegte lieber die alten Frontstellungen. Selbst Manfred Stolpe bemühte lieber die Formel vom „Manchesterkapitalismus“ und geißelte die „schweren Fehler der Bundesregierung“. DGB- Vize Engelen-Kiefer regte an, „das unsoziale Finanz- und Steuerpaket neu zu schnüren“, und Rau wollte den Kanzler dazu verdonnern, seine Bundestagswahlreden noch einmal vor Publikum anzuhören. Nur Wolfgang Thierse brachte am Rande der Sitzung das Dilemma seiner Partei auf den Punkt — nur abstrakt-moralisch hätten die Genossen-West die Notwendigkeit eines Solidarpaktes erkannt. Aber die SPD sei eine Westpartei, deren Forderungen sich eben noch immer daran orientierten, was dort vertretbar sei. Die „neue Kultur der Solidarität“, die eine Delegierte forderte, wird innerhalb der SPD schwer durchsetzbar sein. Auch dann, wenn die schöne Formulierung von Engholm stammen könnte.