Empfehlung: Unzumutbar für die Universität

■ Ehrenausschuß der Humboldt-Universität befaßt sich mit der Vergangenheit einzelner Mitarbeiter/ Klägliche Ergebnisse trotz intern wirkungsvollen Aufarbeitungsmodells/ Wer darf das Maß der Schuld bestimmen?/ Klare Rechtskriterien oft untauglich

Mitte. Mit den Schicksalen einzelner Mitarbeiter an der Humboldt- Universität plagt sich seit einem halben Jahr eine kleine Kommission herum. Feindschaften werden vor ihr ausgehandelt, Lebenswege bis ins Detail zurückverfolgt, Anschuldigungen entkräftet oder bestätigt. Am Ende der langwierigen Untersuchungen sollen die neun Mitglieder der Kommission darüber richten, ob jemand für die Universität »zumutbar« sei oder nicht.

Als der sogenannte Ehrenausschuß gegründet wurde, war der politische Druck auf die Humboldt- Universität so groß, daß man den Willen zur Erneuerung deutlicher zeigen wollte. Also gab man der Vergangenheitsbewältigung eine konkrete Adresse. Anrufbar für jeden, der sich ungerecht beschuldigt fühlte oder anklagen wollte. Von sich aus wurde die Kommission jedoch nie aktiv. »Uns war klar, daß wir immer zwischen den Stühlen sitzen«, erinnert sich Bert Flemming, Vorsitzender des Ehrenausschusses. Entsprechend erscheint das Ergebnis monatelanger Arbeit nach außen hin eher kläglich. Bislang wurden in den verschiedensten »Angelegenheiten« 230 Personen angehört. Die Hälfte der Anliegen konnte abgeschlossen werden. Nur acht Leuten wurde nach der negativen Entscheidung der Kommission gekündigt, was angesichts der Stasi- und Seilschaftenhysterie für jene, die alles neu nach altbewährten Mustern machen wollten, nur ein schwacher Beweis für den gelobten Neuanfang sein kann.

Flemmings Aufarbeitungsphilosophie klingt simpel: Entweder man vergißt, oder man kommt zu uns und klärt. Gerüchten um Stasi-Karrieren, falsche Professorenwürden oder menschliches Fehlverhalten kann nur nachgegangen werden, wenn sie jemand konkret an die Kommission heranträgt. Somit bleiben jedoch viele Fälle unberührt. Auf anonyme Denunziation wird nicht reagiert. »Wenn keiner kommt, ist die Sache scheinbar ins Vergessen geraten, so schlimm das auch sein mag.«

Ungefähr ein Drittel aller Fälle hatte mit Verbindungen zur Stasi zu tun. »Die einen beschuldigen jemanden für nichts, die anderen kommmen zu uns, damit wir ihre Unschuld beweisen«, erzählt Flemming. In Sachen Stasi kamen meistens die Betroffenen selbst.

Flemming erinnert sich an eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, die man der Stasi-Mitarbeit bezichtigt hatte. Nach stundenlangen Gesprächen stellte sich heraus, daß die Frau vor über zehn Jahren auf der Straße verhaftet worden war. Sie wurde über ihren oppositionellen Freundeskreis ausgefragt, man bot ihr die Mitarbeit an. Sie lehnte ab. Nach einem Monat wiederholte sich das makabre Spiel. Sie nahm an und brach gleichzeitig jeden Kontakt zu ihrem Freundeskreis ab. So lebte sie fast zehn Jahre mit ihrer Familie isoliert, um sich gegen die erzwungene Mitarbeit zu wehren. Am Ende solcher Untersuchungen steht fast immer die Frage: Opfer oder Täter. In diesem Fall handelte es sich für die Kommission eindeutig um ein Opfer. Die Akten der Gauck-Behörde, die derzeit die Stasi-Unterlagen verwaltet, belegen diese Entscheidung. Dort werden jedoch die Anfragen erst nach vier bis fünf Monaten beantwortet, was die Be- oder Entlastung für die Betroffenen unerträglich lang hinauszögert.

Die Kommission trifft ihr Mehrheitsvotum in geheimer Abstimmung immer erst eine Woche nach dem letzten Gespräch. Man brauche den Abstand. Jedem Fall folgen lange moralische Diskussionen. Klare Kriterien gibt es nicht. Westler, die im Ausschuß nicht vertreten sind, verlangten stets nach festen Rechtskonstruktionen, berichtet Flemming. Im Einzelfall taugten diese jedoch kaum als Entscheidungsgrundlage.

Als Michael Brie sich öffentlich als Informeller Mitarbeiter bekannte, hoffte der Philosophieprofessor mit diesem Schritt auf Absolution. Der Ehrenausschuß jedoch empfahl dem Rektor: Unzumutbar. Die Studenten protestierten. Schließlich war Brie eine der kritischsten Stimmen an der Universität. Doch gleichzeitig hat er der Stasi Stimmungsberichte über die Diskussionen zu seinen Thesen geliefert. »Brie hat nie reflektiert, welche Folgen sein Tun hatte«, begründet Flemming die Entscheidung der Kommission. Hochstilisiert sei herausgekommen, daß man nur in der Stasi etwas ändern konnte.

Doch nicht so sehr Bries Stasi-Tätigkeit war ausschlaggebend für die Entscheidung, sondern eher der Umgang des Beschuldigten mit seiner eigenen Vergangenheit. Nicht jeder, der mit der Stasi zu tun hatte, wird entlassen. Der vom Einigungsvertrag geprägte Begriff »Unzumutbarkeit« erweist sich als relativ. In anderen Fällen empfahl die Kommission auch Versetzungen oder riet von Leitungsposten ab. Umstritten bleibt, wer das Maß an Schuld anderer bestimmen kann.

Wahrscheinlich sind die Mitglieder des Ausschusses aus diesem Grund froh, nur Empfehlungen aussprechen zu müssen. Sie kennen die Nachteile. Der Fall Brie liegt schon seit Monaten beim Rektor Fink auf dem Tisch, ohne daß etwas passiert ist. Auch er wartet darauf, das andere entscheiden. Und diese entscheiden wiederum nach einem anhand von Fragebögen vorgegebenen Schema. Spätestens an diesem Punkt dreht sich alles im Kreis.

Es ginge dem Ausschuß nicht um Gerechtigkeit, sagt der Vorsitzende. Ansonsten müßte jeder Mitarbeiter der Universität vor diesen treten. Eher sei man so etwas, wie eine interne Schlichtungsinstanz. Denn die weitaus größere Zahl der Fälle handelt von Karrierismusvorwürfen, Wendehalsprofessoren oder unzumutbaren Haltungen und Handlungen, die Jahre zurückliegen. Hier ist es noch schwieriger, die Verstrickungen des einzelnen im Machtapparat aufzudecken. Die Aktenlage ist äußerst dünn, denn die alten Kaderakten seien von der damaligen Universitätsleitung beseitigt worden. Auch an die Berufungsakten kommt der Ehrenausschuß nicht heran.

Wenn er dennoch herausfindet, daß jemand ohne Qualifikation, aber nach der sozialistischen Bilderbuchkarriere zum Professor berufen worden ist oder wenn jemand am Rausschmiß von StudentInnen beteiligt gewesen ist, hat er nur geringen Handlungsspielraum. »Gerade diese Professoren sind im Prinzip nicht zu entlassen, weil die Regelungen aus dem Einigungsvertrag nicht anwendbar sind«, kritisiert Flemming. Viele der Mitarbeiter seien verbittert, weil die entsprechenden Gesetze fehlten. »Und Selbsteinsicht«, meint Flemming enttäuscht, »ist in keinem dieser Fälle vorhanden. Die ziehen sich auf den Befehlsnotstand zurück.«

Trotz allem hält Flemming fest an diesem Modell. Seine Alternative hätte gelautet, die gesamte DDR-Bevölkerung an die Ostsee zu schicken und die Gebäude mit Westlern zu besetzen. Aber der Austausch von Köpfen könne es nicht sein. Darauf wollte sich die Humboldt-Universität nie einlassen, auch nicht nach dem Abwicklungsbeschluß. Personalstrukturkommissionen setzten parallel zum Ehrenausschuß die Überprüfung jedes Mitarbeiters in allen Fachbereichen fort. Die Ergebnisse werden noch in diesem Monat erwartet. Aber selbst wenn es dann neue Strukturen und neue Mitarbeiter geben wird, so Flemming, werde sein Ausschuß noch die nächsten zwanzig Jahre arbeiten müssen. Anja Baum