„...die drücken doch nur die Quote“

24. Mainzer Tage der Fernsehkritik diskutierte Integrationsauftrag im Einigungsprozeß  ■ Von Karl-Heinz Stamm

Die Formulierung und Diskussion abstrakter Imperative ist das eine, ihre praktische Durchsetzung und Realisierung das andere. So auch bei den diesjährigen „Mainzer Tagen der Fernsehkritik“. Denn während der „Integrationsauftrag des Fernsehens im Prozeß der deutschen Einheit“ diskutiert wurde, blieben die Vertreter der neuen Bundesländer merkwürdig ausgegrenzt. Nicht daß man sie nicht eingeladen hatte, nein, man ging nur kommentarlos an ihren Beiträgen vorbei. „Uns fragt ja keiner“, so der sichtlich resignierte DFF-Intendant Michael Albrecht.

Dabei hatte der ARD-Vorsitzende Friedrich Nowottny gerade darauf hingewiesen, daß Integration angesichts der deutschen Einigung jetzt wichtiger denn je sei. Beide Seiten müßten zu einer neuen Kommunikationskultur beitragen: „Die einen müssen runter von ihren hohen Rössern, die anderen Raus aus ihrer Züruckhaltung.“ Davon aber war bei der zweitägigen Veranstaltung wenig zu spüren.

Der Integrationsauftrag steht nicht erst seit der Wiedervereinigung auf dem Programm. Bereits 1971 schrieben die Karlsruher Verfassungsrichter in ihrem zweiten Rundfunkurteil dem Fernsehen diesen Auftrag im Hinblick auf die „Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit“ ins Stammbuch. Gleichwohl, der größte Teil der anwesenden Fernsehpraktiker kann mit ihm wenig anfangen. Für Winfried Scharlau, Moderator des NDR-Weltspiegels, war das denn auch eine typisch deutsche Debatte, und Jürgen Kellermeier, Fernsehprogrammdirektor des NDR, hält den Begriff nur deshalb für vorteilhaft, weil er so unscharf formuliert ist, er deshalb Freiräume bietet. Es bedurfte erst der alten Männer (Hans Bausch, Heinz Werner Hübner), also derjenigen, die ein Stück Radiogeschichte geschrieben haben, dies zu relativieren. „Ohne den Integrationsbegriff zu kennen, haben wir das praktiziert.“ (Hübner) Und es bedurfte eines Wilhelm Hennis, emeritierter Politikprofessor, der damit aufräumte, daß es sich bei diesem Leitsatz um eine „pathetische, juristische Leerformel“ handele, sondern dieser Begriff — angesichts der bedrohten Weimarer Republik von Rudolf Smend in die Verfassungsdebatte eingebracht — den Vorgang des sich immer wieder neu benennt.

Aber wie sich einigen, wenn die Notwendigkeit nicht begriffen, die Herausforderung nicht verstanden ist? Als die Moderatorin Cornelia Bolesch ('Süddeutsche Zeitung‘) eine Runde von leitenden Fernsehprofis nach ihrer privaten Betroffenheit im Einigungsprozeß fragte, erschien das beim ersten Hinhören als abstrus, doch die Antworten bestätigten die Richtigkeit der Frage. Denn alle, außer Joachim Jauer, Redaktionsleiter von Kennzeichen D selbst bezeichnet, haben oder hatten mit dem Prozeß persönlich wenig zu tun („ich habe geglaubt, daß er mich nichts angeht“). Was sie bekundeten war eine abstrakte Einsicht in die Notwendigkeit, daß das Programm auf die politische Herausforderung zu reagieren habe. Konkretes Ansinnen aber, etwa das, man solle das Kästchendenken doch aufgeben und über eine neue Programmstruktur nachdenken, wiesen sie als Anmaßung zurück. Auch der Vorschlag einen Runden Tisch im Fernsehen einzurichten wurde abgebügelt.

Zwar hatte der Ostberliner Christoph Dieckmann ('Freitag‘) in einem pointierten und trotzdem nachdenklich stimmenden Einleitungsvortrag darauf hingewiesen, daß die im Osten in einem anderen Paradigma, „in einer Ihnen im Westen fremden Plausibilitätsstruktur“ zu Hause sind, und damit auf den Eigensinn der Ostler verwiesen, das aber focht die Herren im Westen nicht an: „Die Beiträge aus dem Osten drücken doch nur unsere Einschaltquoten“ (Kellermeier). Als flapsiger Einwurf formuliert, benannte der Lapsus doch die Grenzlinie des Integrationsauftrages. Denn eine Berichterstattung, ein Programm, das Ernst macht mit den anders gearteten Nöten und Wünschen unserer Brüder und Schwestern aus dem Osten und gleichzeitig auf Quoten fixiert bleibt, scheint ein unlösbarer Widerspruch.

Immerhin will man bei der ARD 14tägig einen Brennpunkt Deutschland einführen, einen Moderator aus der DDR kann sich Martin Schulze, Koordinator der ARD für Politik, Gesellschaft und Kultur, aber partout nicht vorstellen: „Warum wollen wir nicht erst einmal mit schönen Filmen anfangen.“

Zwar ist es immer wieder amüsant dem Schlagabtausch zwischen den Vertretern des öffentlich-rechtlichen und des privaten Fernsehens beizuwohnen, vor allem dann, wenn Friedrich Nowottny zur Höchstform aufläuft, gleichwohl sind diese Diskussionen, die die bekannten Anwürfe und Unterstellungen in nur geringfügig veränderter Form wiederholen, so überflüssig wie ein Kropf. Dafür aber überzeugte die Runde der Fernsehkritiker umso mehr. Denn was die sechs Rezensenten der schreibenden Zunft zum Thema Programm, wie es sein sollte zusammentrugen, war jeweils für sich genommen schlüssig und überzeugend. So schlug Ingrid Scheithauer ('Frankfurter Rundschau‘) die Fortsetzung von Liebling Kreuzberg vor. Rechtsanwalt Liebling soll sich in Leipzig um Lebens- und Rechtsprobleme kümmern. Ihrem Plädoyer für eine „Ost-Quote“ in den zahllosen bundesrepublikanischen Talk Shows widersprach allerdings der Ostberliner Journalist Mathias Wedel. Der nämlich setzt auf dialogische Formen im Fernsehen ohne Vorzeige-Ossi. In der ZDF Talk-show „Live“ hat er die spielerischste Form von Integration ausgemacht, denn hier können Menschen miteinander sprechen, die sonst durch Welten getrennt sind. Wobei die Integrationsintention tendenziell bis zur Unkenntlichkeit des „Alles hängt mit allem zusammen“ verzerrt wird. Während der Fernsehkritiker Wilfried Geldner fragte, ob denn nicht starke Figuren, wie etwa Kurt Masur ihren Beitrag zur Integration leisten könnten, wies Patrick Bahners (FAZ) darauf hin, daß die Not der Ostler im geschlossenen System Lindenstraße immer nur auf „Anschlußfähigkeit“ reduziert wird. Ihre Probleme ernst nehmen hätte geheißen, eine zweite Straße zu eröffnen. Und indem Dietrich Leder davon sprach, das Medium habe die Aufgabe die Differenz von gestern und heute festzuhalten, verwies er implizit auf die unterschiedlichen Zeithorizonte, denen die beiden Teile Deutschlands immer noch verhaftet sind. Die Forderung sich jetzt Zeit zu lassen und der Neugier einen Platz zu geben, die die Fernsehkritikerin Sybille Simon-Zülch vortrug, zielte auf den gleichen Punkt.

Angesichts der augenscheinlichen Vorbehalte, die die West-Profis nicht nur der Ost-Realität sondern auch ihren Ost-Kollegen entgegenbringen (deren Programm nicht erwähnenswert schien) muß man fragen, ob nicht auch bei unserem Fernsehen ein „enormer Wirklichkeitsverlust“ zu beklagen ist, den der Historiker Christian Meier für unsere Gesamtgesellschaft konstatierte. Und angesichts der Weigerung der beiden Tanker (ARD und ZDF) und ihrer Steuerleute auf die vorgetragene Kritik einzugehen, muß man weiter fragen, ob das ganze Ritual der Veranstaltung überhaupt noch lohnenswert ist. Eines aber wurde klar, daß eine langer Weg vor uns liegt, dessen Endpunkt Christoph Dieckmann folgendermaßen gekennzeichnet hat: „Von deutsch- deutscher Integration wird erst dann zu reden sein, wenn der Westen den Einmarsch der Nationalen Volksarmee 1968 in die Tschechoslowakei ebenso zur deutschen Geschichte adoptiert, wie der Osten seit jeher die bundesdeutsche Fußball-Weltmeisterschaft.“

Am Montag dem 2. Juli zeigt das ZDF um 23.55 Uhr einen 45minütigen Film über die Veranstaltung.