Äthiopien: Versorgungslage katastrophal

Die provisorische Regierung in Äthiopien hat die Lage noch nicht unter Kontrolle/ Hilfsorganisationen sind besorgt über die Versorgung der Bevölkerung und der Flüchtlingslager/ Transportwege durch Kämpfe und Überfälle abgeschnitten  ■ Aus Addis Abeba Bettina Gaus

Lenin blickt sinnend in die Ferne auf einem Bild im Büro von Boris Savchouk, dem medizinischen Direktor des sowjetischen Krankenhauses von Addis Abeba. Es gehört zu den vielen Widersprüchen dieser Tage, daß die Sowjetunion, die jahrelang das Regime von Mengistu Haile Mariam mit massiver Militärhilfe am Leben gehalten hat, in der Bevölkerung derzeit nicht sehr populär ist. Gleichzeitig ist aber das sowjetische Krankenhaus die praktisch einzige Klinik in der äthiopischen Hauptstadt, die gute chirurgische Betreuung bietet.

Sie wird jetzt auch vom Internationalen Roten Kreuz mit Medikamenten versorgt. Insgesamt liegen hier mehr als 300 Patienten, die meisten von ihnen mit Schußwunden. Und obwohl sich die Lage in Addis beruhigt hat, werden täglich neue Verletzte eingeliefert — vierzehn waren es allein gestern.

Hunger auch in Addis

Eine im fünften Monat schwangere Frau wird in der kleinen Intensivstation behandelt. Sie wurde von einer Kugel in den Unterleib getroffen — aber das Baby blieb unverletzt. „Die Patientin ist über den Berg“, sagt Boris Savchouk, „wir erwarten, daß es nicht zu einer Fehlgeburt kommt.“ Neben der Frau liegen zwei verwundete Kinder. Ihr Alter läßt sich nur ungefähr schätzen, denn sie sind schwer unterernährt.

Nicht nur draußen auf dem Land hungern die Menschen, auch die Bevölkerung in der Hauptstadt leidet Mangel. Der Preis für das Grundnahrungsmittel Teff, aus dem große Fladenbrote gebacken werden, ist auf 300 Birr pro 100 Kilogramm hochgeschnellt. Bereits die 190 Birr, die vor zwei Monaten gezahlt werden mußten, waren für viele Einwohner unerschwinglich — vor einem Jahr kostete das Teff lediglich 90 Birr.

Aber immerhin: es gibt wenigstens Nahrungsmittel zu kaufen in Addis Abeba. In weiten Teilen des Landes und auch in den Flüchtlingslagern ist eine unübersehbar große Zahl von Menschen jetzt direkt vom Hungertod bedroht. Noch lassen die Verhältnisse Hilfstransporte nicht zu: Im Ogaden ist nach Angaben von Hilfsorganisationen jedes 3. Kind unterernährt — aber gerade dort drohen große Gefahren. Zahlreiche Autos wurden gestohlen, oft mit gewaltsamen Methoden. Auf zwei Lastwagen der deutschen Organisation GTZ wurde in der Hararge-Gegend geschossen. Auch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) verlor zwei Lastwagen, ein Mitarbeiter wird vermißt.

„Die Lage ist katastrophal, uns muß Sicherheit garantiert werden“, sagt Mike Ellis, vom WFP. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) hat seine Mitarbeiter aus Protest gegen die jüngsten Vorkommnisse aus der Gegend abgezogen, nachdem einige Flüchtlingslager überhaupt nicht mehr zugänglich sind, weil einige Brücken gesprengt wurden. Die Versorgungwege für eine Million Flüchlinge und 200.000 Heimkehrer seien jetzt weitgehend zerstört. Die Übergangsregierung in Addis hat den Geberorganisationen gestern öffentlich zugesichert, den Sicherheitsproblemen höchste Priorität einräumen zu wollen. Versprechen aber läßt sich unter den gegebenen Umständen wohl nichts — die Machtverhältnisse im Ogaden und in der Hararge- Gegend erscheinen von Addis aus äußerst unklar.

In der Stadt Dire Dawa sollen chaotische Verhältnisse herrschen. Die Gerüchte in diesem Zusammenhang sind ebenso schwer zu bestätigen wie zu widerlegen: es sei zu Zusammenstößen zwischen Tigreern und Angehörigen der Oromo-Befreiungsbewegung gekommen; bewaffnete Banditen plünderten wahllos alles, was sie ergattern könnten; das Gebiet befinde sich nach wie vor unter der Kontrolle des alten Regimes. 400.000 sudanesische Flüchtlinge im Westen Äthiopiens seien quasi vollkommen abgeschnitten. Unter diesen Umständen lassen sich Hilfstransporte wohl kaum geordnet organisieren.

Die Probleme der provisorischen Regierung bei der Einnahme des Südens sind nach Angaben von Beobachtern darauf zurückzuführen, daß die Organisation ihren Ursprung in der Region Tigre im Norden hat. Ihre Soldaten sprechen eine andere sprache und gelten in Südäthiopien als Feinde.

Aber es gibt auch Signale der Hoffnung: Der Hafen Assb, in dem noch immer 100.000 Tonnen Nahrungsmittelhilfe lagern, ist nach Angaben der neuen Machthaber in Addis für Notoperationen wieder geöffnet. Sie scheinen sich darauf mit der eritreischen Unabhängigkeitsbewegung EPLF, die die Stadt kontrolliert, geeinigt zu haben. Auch Hilfsflüge sollen für den noch geschlossenen Flughafen in Addis Abeba so schnell wie möglich, wahrscheinlich schon in den nächsten Tagen, Landegenehmigungen erhalten.