Gringo-Effizienz und Latino-Lebensart

Mario Vargas Llosa beschreibt exklusiv für WORLD MEDIA das lateinamerikanische Miami. Ein Vorabdruck  ■ Von Mario Vargas Llosa

Senora Evita ist Bolivianerin und kam vor zehn Jahren mit einem Touristenvisum aus La Paz nach Miami. Sie blieb dort als Illegale, hütete Kinder, ging putzen und bügelte Wäsche, bis sie nach sieben Jahren bei einem Verkehrsunfall von der Polizei entdeckt wurde. Der Staat Florida leitete ein Ausweisungsverfahren gegen sie ein, und sie mußte sich einen Spezialanwalt nehmen, der ihre Abschiebung um ein Jahr hinauszögern konnte (was sie 1.000 Dollar kostete). Als die Abschiebung unvermeidlich zu sein schien, brachte der Anwalt Senora Evita mit einer Agentur in Kontakt, die ihr einen Ehemann vermittelte, einen eingebürgerten Kubaner, mit dem sie für 2.000 Dollar übereinkam, zu heiraten und sich sogleich nach ihrer Einbürgerung scheiden zu lassen. Das Verfahren erfordert mindestens zwei Jahre.

Aber der Mann von Senora Evita erwies sich als menschliches Wrack und Alkoholiker dazu; er starb bereits nach einem Jahr Ehe. Die leidgeprüfte Senora sah abermals das Damoklesschwert der Abschiebung über ihrem Haupt schweben. Ihre Rettung war die Amnestie, welche die US-Regierung vor einem Jahr für illegale Einwanderer, die seit langem hier sind, erlassen hatte. Jetzt genießt sie volles Aufenthaltsrecht und verdient sich den Lebensunterhalt sehr gut mit täglich zehn Stunden Bügeln in den eleganten Villen von Key Biscayne (das Putzen und Kinderhüten hat sie aufgegeben).

Sie erzählt mir ihre Geschichte inmitten von Hemden und Hosen, im Haus eines kolumbianischen Industriellen und Großgrundbesitzers, Don Cesar P., den die Gewalt in seinem Land — einer seiner Söhne wurde entführt, er mußte ein hohes Lösegeld für ihn bezahlen, und ein Vetter starb bei dem Versuch, sich gegen eine Entführung zur Wehr zu setzen — dazu veranlaßte, sich in Miami niederzulassen. Von hier aus führt er mit Telefon und Telefax alle seine kolumbianischen Geschäfte. Er brachte seine ganze Familie mit, und sie hat sich mittlerweile an das heiße Klima von Florida gewöhnt. Die meisten Vorbehalte gegen ein Leben außerhalb Kolumbiens hatte Esther, seine Frau. Noch immer vermißt sie die Verwandten und Freunde aus Cali.

Aber sie hat schon einen neuen Bekanntenkreis, alles Lateinamerikaner, mit denen sie Bridge und Golf spielt und monatlich einen Roman liest und bespricht (ihr Lesezirkel heißt Macondo, wie könnte es anders sein). Weder Dona Evita noch Dona Esther fühlen sich im mindesten dadurch beeinträchtigt, daß sie kein Englisch sprechen. Tatsächlich brauchen sie es in Miami auch kaum. Es gibt zwei spanische Tageszeitungen — 'El Diario de las Américas‘ und 'El Nuevo Herald‘ —, zwei spanische Fernsehsender, unzählige Radiostationen, die Programme in ihrer Sprache und lateinamerikanische Musik übertragen, außerdem noch spanische Kinos und Film- und Schauspieltheater. Es gibt keinen berühmten Sänger aus Spanien oder Lateinamerika, der nicht häufig auf den Bühnen von Miami zu sehen wäre.

Dazu hält man hier ein Festival des Spanischen Theaters, ein Filmfestival und eine Buchmesse ab, in denen spanischsprachige Filme und Verlage ebenso vertreten sind wie englischsprachige. Und es gibt einen lateinamerikanischen Karneval, bei dem jedes Jahr eine Million Menschen Rumba und Huaracha tanzen, Cumbia und Merengue singen, als Gauchos oder Guajiras verkleidet durch die Straßen ziehen und auf der berühmten Calle Ocho alle Gerichte der Karibik und Südamerikas essen.

Das Exil steigert die Verbundenheit mit der eigenen Tradition ins Extrem, und sie nimmt bisweilen geradezu religiöse Züge an. (Wo sonst wurde zum Beispiel der achtzigste Jahrestag des berühmten Boleros Quiereme mucho (Liebe mich sehr) des kubanischen Komponisten Roig, zu dessen Klängen so viele Paare sich fanden und tanzten, gefeiert wie hier in Miami?) An die zweitausend Zuschauer füllten das Stadttheater von Groß-Miami, um die jungen Sänger Orlando und Mara zu hören, die, obschon im Exil aufgewachsen, drei Stunden lang die beliebtesten Boleros der Vergangenheit wiederaufleben ließen, zu Ehren des achtzigjährigen Quiereme mucho, den das Publikum ehrfürchtig und fast reglos im Stehen mitsang.

Für nächste Woche hat das riesige Theater die Uraufführung von La Malquerida (Die Ungeliebte) angekündigt, mit Nati Mistral in der Titelrolle. Ich bin dann nicht mehr hier, leider; ich wäre hingegangen, schon um zu sehen, ob ich das Theater Benaventes mit Nati Mistral noch genauso unwiderstehlich fände.

In den sechs Wochen, die ich in Miami, wo ich ein Seminar abhielt, verbrachte, ist mir tatsächlich der Mund offen geblieben vor Staunen über die Art, in der Sprache und Gebräuche der Lateinamerikaner oder Hispanics, wie sie in den Vereinigten Staaten genannt werden, in dieser Stadt Wurzeln geschlagen haben. Dies verleiht ihr einen einmaligen Charakter, der sich von den anderen mir bekannten Städten unterscheidet. Über Miami gibt es eine reichhaltige, überwiegend negative Mythologie: Es gilt als eine Stadt, in der früher oder später alle Schurken Lateinamerikas aufkreuzen, von Drogenhändlern bis zu Ex-Diktatoren, dazwischen korrupte Politiker und verdächtige Neureiche. Und das stimmt natürlich. Aber es gibt in Miami auch ein blühendes und vielfältiges kulturelles Leben: zwei Symphonieorchester, eine Balletttruppe, Dutzende von Kunstgalerien und eine große Zahl von Musikern und neu gegründeten Theatern. Überdies zahllose Schriftsteller, Maler, Komponisten und Akademiker aus Lateinamerika, die auf ihrem Gebiet arbeiten, ohne ihre Herkunft zu vergessen. (Den Musikfans rate ich, ins Sempers zu gehen und die Truppe des Kubaners Pedro Tamayo zu hören.) Es stimmt auch, daß unzählige Lateinamerikaner, von der Instabilität und Ungewißheit über die Zukunft ihrer Länder ins Ausland vertrieben, ihr Geld hierher bringen. Daß sie nach Miami kommen, ist leicht verständlich. Was sie wie ein Magnet anzieht, sind nicht nur das Klima eines Badeorts und die schönen Strände, sondern auch das Gefühl, hier nicht fremd zu sein. In dieser Stadt gibt es eine eigenartige Mischung aus Gringo-Effizienz und Latino-Lebensart.

Zum ersten Mal in der Geschichte des Einwandererlands Vereinigte Staaten ist eine Migrationswelle, die kubanische, nicht vom Schmelztiegel absorbiert und aufgelöst worden; vielmehr haben die Migranten ihre kulturelle Identität bewahrt und nehmen zugleich aktiv am Wirtschaftsleben ihrer Wahlheimat teil. Diese lateinamerikanische Prägung bot neben dem Klima und der geographischen Nähe den Anreiz für Zehntausende von Kolumbianern, Nicaraguanern, Salvadorianern, Panamaern, Peruanern, Ecuadorianern und so weiter, sich in dieser Gegend niederzulassen.

Wie viele sind es? Nach offiziellen Zahlen sind von den zwei Millionen Einwohnern Groß-Miamis die Hälfte Latinos. Aber der Zensus erfaßt nicht immer exakt jene unaufhaltsame Masse der Illegalen, die wie Senora Evita alle denkbaren Tricks anwenden, um über die Grenze zu kommen oder hierzubleiben. Es ist also möglich, daß die spanischsprachige Gemeinde die englischsprachige in Groß-Miami überflügelt hat. Es ist keine passive Gemeinde. Sie ist sehr gut organisiert und stellt Bürgermeister, Stadträte und Abgeordnete; sie versteht es, die komplizierten Mechanismen des Lobbyismus (hier nennt man sie „Cabildeo“) im Kongreß für sich zu nutzen. Gerade eben hat sie die schon von Präsident Bush beschlossene Beförderung eines Richters verhindert. (Dem Justizbeamten wurde die Mitgliedschaft in einem Club vorgeworfen, zu dem weder Juden noch Latinos Zutritt haben.)

Ein großer Teil dieser Einwanderer verrichtet Hausarbeit oder andere manuelle Arbeit; das paßt ins klassische Bild des Exilierten: Der Mann oder die Frau müssen sich ihren Weg bahnen, indem sie ganz unten anfangen, als Bürger zweiter Klasse, als diskriminierte Außenseiter und vom Establishment Ausgebeutete. Aber in Miami ist das nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Als vor drei Jahrzehnten die erste große Einwanderungswelle von Kubanern kam, war Miami noch eine kleine, verschlafene Sommerfrische für Pensionäre und Saisongäste. In dem kurzen Zeitraum von dreißig Jahren hat diese Einwanderung Miami in eine dynamische Metropole verwandelt.

Heute ist die Stadt ein Finanzzentrum von kontinentaler Bedeutung, mit Bankfilialen und Handelsplätzen für ganz Lateinamerika. Seine Wirtschaft hat eine der höchsten Wachstumsraten in den Vereinigten Staaten. Und obwohl der Tourismus eine großartige Infrastruktur aus Hotels, Läden, Vergnügungsstätten und Verkehrsmitteln geschaffen hat und weiterhin wichtigster Arbeitgeber und Haupteinnahmequelle ist, entstehen neue Industrien schneller als im nordamerikanischen Durchschnitt.

Dieses Wirtschaftswunder ist zu einem großen Teil den Latinos zu verdanken, die vor allem in der angelsächsischen Welt als ineffizient und faul gelten. In Miami haben sie bewiesen, daß sie genauso effizient und hellwach arbeiten und Reichtum schaffen können, wie sie einen Bolero komponieren oder Salsa tanzen. Es ist wohl richtig, daß viele Exilkubaner, die es an diese Strände verschlug, gelernte Fachkräfte waren, was ihnen die Suche nach Arbeit erleichterte. (Nach der neuesten Umfrage des Statistischen Amtes beziehen von den 20.799.000 in den Vereinigten Staaten lebenden Latinos die 1.014.000 Kubaner das höchste Einkommen: durchschnittlich 38.497 Dollar im Jahr, während das Durchschnittseinkommen der Latinos insgesamt gerade 29.197 Dollar beträgt.) Aber selbstverständlich ist das nicht der eigentliche Grund für den Erfolg der Kubaner in Miami. Denn es gibt weder faule Rassen und Kulturen noch fleißige, sondern es gibt Systeme — Spielregeln, Gesetze und Praktiken —, die Leistung und Initiative entweder fördern oder ersticken und unterdrücken. Miami ist ein Schulbeispiel dafür, daß die Lateinamerikaner in einem günstigen Umfeld ebenso beharrlich, diszipliniert, produktiv und ebenso gute Unternehmer sein können wie die Angelsachsen oder die Japaner.

Als ich eines Nachmittags die Internationale Universität von Florida verließ — deren Rektor Modesto Maidique der einzige Latino-Rektor in den ganzen Vereinigten Staaten ist—, stieß ich zufällig auf einen jungen peruanischen Ingenieur, den ich aus Lima kannte. Er hatte mit mir in der Wahlkampagne zusammengearbeitet, als Leiter einer der Kommissionen (Industrie) für das Regierungsprogramm. Ich fragte ihn, ob er auf Besuch hier sei. Nein. Er war gekommen, um zu bleiben. Er zeigte mir seine Hände: „Ich habe nur eine Stelle als Arbeiter bekommen“, erklärte er mir. „Aber ich verdiene gut, und ich bin sicher, daß ich mit ein bißchen Anstrengung und Glück vorwärts komme.“

Übersetzung:

Ute Wachendorfer-Schmidt