Jeden Tag ein Loch weiter

■ Vom Anfang der großen Freiheit oder: Mit Präsern ist's auch ganz nett

Meine Mutter war eine gute Katholikin. Gegen die Ge- und Verbote ihrer Kirche hat sie nur zweimal schwer verstoßen: Das erste Mal 1943, als sie partout meinen protestantischen Vater heiraten wollte. Das zweite Mal muß 1962, kurz nach der Geburt meiner jüngsten Schwester, gewesen sein — die „Antibabypille“ war gerade auf den Markt gekommen. Meine Mutter hatte bis dato sechs Kinder auf die Welt gebracht und war noch immer furchtbar fruchtbar. Nun aber drohte der Frauenarzt: Lassen Sie das Schwangerwerden endlich sein, wenn Ihnen an Ihrem Leben liegt. Was tat sie? Sie schluckte die Pille — Papst Paul dem VI. und seiner Enzyklika zum Trotz. Wie muß sie unter dieser Sünde gelitten haben — die Ärmste.

Erzählt hat sie mir das erst viel später. Ich war sweet seventeen und hatte einen festen Freund. Nach über einem Jahr Petting wollten wir es endlich auch „richtig“ machen. Ich wußte von einem Frauenarzt, der minderjährigen Frauen die Pille auch ohne Einwilligung der Eltern verschrieb. Und da meine Mutter nichts erfahren durfte, machte ich mich heimlich und unter Beistand einer Freundin und deren moderner Mutter auf zum Doktor. Ich kletterte zum ersten Mal auf einen gynäkologischen Stuhl und verließ die Praxis mit einem Rezept und detaillierten Gebrauchsanweisungen — aufgeregt und ein bißchen stolz.

An den Namen des Präparats und seine Nebenwirkungen kann ich mich nicht mehr erinnern. Die Schachtel aber war rund, jeden Tag wurde der durchsichtige Deckel ein Loch weitergeschoben — einundzwanzig gelbe Pillen lang, dann sieben Tage aussetzen — da capo. Eine Dreimonatspackung kostete etwa 20 Mark. Ich und mein Freund legten zunächst unser Taschengeld zusammen und fühlten uns frei und ziemlich emanzipiert. Nur manchmal durchzuckte mich der Schreck: Hab' ich sie gestern auch genommen?

Restbestände in den Mülleimer

Selbstverständlich schluckten damals auch alle meine guten Freundinnen die Pille. Und als meine Mutter irgendwann die verräterische Packung fand, war sie zwar geschockt, akzeptierte aber nolens volens die Fakten. Der große Vorteil war, daß ich von nun an am Wochenende außer Haus übernachten und mit meinem Freund in die Ferien verreisen durfte.

So hätte es weitergehen können, wenn sich wenige Jahre später nicht eine Frauen-Selbsterfahrungsgruppe in unserer Wohngemeinschaft etabliert hätte. Wie es die Zeiten so mit sich brachten, landeten unsere restlichen Pillenbestände bald im Mülleimer, und wir übten Diaphragma-Einlegen mit und ohne Einführstab, im Stehen, Sitzen und Liegen. Es folgten Selbstuntersuchungen mit dem Plastikspekulum, Menstruationsschwämme und die garantiert biologisch-dynamische Diaphragma-Creme auf der Basis von Was- weiß-ich plus Honig, Geschmacksrichtung Zitrone. Ein echter Fortschritt gegenüber den ekligen chemischen Spermientötern.

Es folgte die Lektüre von Alice Schwarzers Der kleine Unterschied und seine großen Folgen und unendliche Diskussionen mit den Kerlen über Vor- und Nachteile des Schwanzfickens. Es folgte die Aids- Angst und das Aha-Erlebnis, daß es mit Präsern auch ganz nett und auch viel praktischer ist als mit dem flutschigen Diaphragma, das sowieso bereits ziemlich morsch war.

Bei Präsern wär's wahrscheinlich geblieben, wenn nicht glücklicherweise die Frau meines Lebens aufgetaucht wäre. Aber das ist eine andere Geschichte...

P.S. Neulich erzählte mir meine jüngste Schwester, die es mit der 100 Prozent natürlichen Verhütungsmethode der Schleimuntersuchung innerhalb kurzer Zeit zu drei Töchtern gebracht hat: „Du, ich nehme jetzt die Pille.“ Katharina Schmutz