China zwischen Moderne und Tradition

■ Jahrestag des Massakers am Platz des himmlischen Friedens: Chinesischer Dichter Yang Lian plädiert im Haus der Kulturen der Welt für Individualismus und Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen Werte

Tiergarten. Morgen, am 4. Juni, jährt sich zum zweiten Mal das Massaker auf dem Pekinger Platz des himmlischen Friedens — Anlaß für das Haus der Kulturen der Welt, sich im zweiten Jour fixe mit der Rolle der chinesischen Intellektuellen zu beschäftigen. Gast war der 36jährige Dichter Yang Lian, der seit 1989 im Exil lebt und sich zur Zeit als DAAD- Stipendiat in Berlin aufhält. Er gehört zu der jungen Lyriker-Generation, die die Verheerungen der Kulturrevolution am eigenen Leib erfahren hatte und mit ihrer Dichtung die Suche nach dem »Ich« und den Begriff »Mensch« in den Mittelpunkt stellte.

Yang Lian stellte seinem etwa 100köpfigen Publikum das problematische Geschichtsbewußtsein der chinesischen Gesellschaft dar. Zum einen präge die 5.000jährige Geschichte und Traditionen Chinas ihren Alltag, zum anderen seien aber auch Einflüsse der westlichen Moderne präsent. Denn seit Beginn des Jahrhunderts bis zum Machtantritt Maos hätten Intellektuelle eine Demokratie nach westlichem Muster angestrebt. Mao sorgte dann für ein gestörtes Verhältnis zu den eigenen, uralten Traditionen, indem er diese ablehnte und ein neues China, eine neue Kultur, einen neuen Menschen schaffen wollte. 1979 — drei Jahre nach Maos Tod — begann die Welle des »Neuen Nachdenkens« über den Umgang mit der eigenen Geschichte und Traditionen und deren Bedeutung für die Gegenwart. Yang Lian sieht die Möglichkeit einer Erneuerung der chinesischen Gesellschaft im bewußten Umgang mit den Traditionen — ohne westliche Einflüsse. Ferner sei die individuelle Freiheit, über die in China seit 1988/89 verstärkt diskutiert wird, Voraussetzung für eine selbstbestimmte Gesellschaft. Nicht »das Land« oder »das Volk« seien zu retten, sondern »der Mensch«. »Jeder Mensch soll sich selbst formen und soll sich darüber klar werden, was er eigentlich will. Es hat keinen Sinn auf den ‘Großen Erlöser‚ zu warten.« Nur dann komme es zu einer Wechselwirkung zwischen Staat und Individuum.

Yang Lian stellte sich mit seinen Überlegungen nicht nur gegen den Kollektivismus und die Traditionsfeindlichkeit des Kommunismus in China, sondern er provozierte damit auch einen Großteil seines Berliner Publikums. Denn die Werte — Individualismus und Rückbesinnung auf die alten Traditionen — die für ihn und das heutige China progressiv sein mögen, stellen für die westliche Linke das genaue Gegenteil dar. Entsprechend kritisierte Lians Podiumspartnerin, die Sinologin Sabine Peschler, seine Vorschläge. Den Anspruch, daß die Moderne durch den bewußten Umgang mit der eigenen Geschichte Einzug halten solle, hielt sie für konservativ und nicht realisierbar. Sie selbst hätte beobachtet, daß in China bereits eine Entfremdung der jüngeren Generation von den alten Traditionen stattgefunden habe. Sie sieht eine Möglichkeit zur Erneuerung der chinesischen Gesellschaft eher in der Kommunikation mit der »Weltkultur«. Nadja Encke

Morgen findet ab 17 Uhr vor der Gedächtniskirche eine Mahnwache zum Gedenken an das Massaker statt.