»Hoch über dunklen Kiefernwäldern«

■ Im ehemaligen SED-Ghetto in Wandlitz feierten die Bernauer ein Jahr kommunale Selbstverwaltung

Wandlitz. Die Villen in der ehemaligen Schlafstadt der alten SED-Führung sind ein deprimierender Anblick. Der Beton mag erstklassig sein, aber er klebt genauso uneben an Honeckers Hauswand wie an jedem Lichtenberger Wohnsilo. Vielleicht waren sie innen luxuriös eingerichtet, von außen unterscheiden sich die Häuser in der Wandlitzer Waldsiedlung nicht von den ostüblichen drecksbraunen Mietskasernen. Heute ist in der Siedlung eine Rehabilitationsklinik untergebracht. In den Häusern von Honecker, Mielke und Tisch werden krebskranke Kinder behandelt.

Auf dem Sportplatz der Siedlung singt der Stadtchor Bernau Hoch über dunklen Kiefernwäldern, heil Dir, mein Brandenburger Land. Ein Jahr kommunale Selbstverwaltung ist ein Grund zum Feiern, befand der Landkreis Bernau und veranstaltete am Samstag ein Volksfest. Die Bernauer sitzen artig auf den Bänken vor der Bühne und lauschen ernst dem Moderator, der eine Pressenotiz über den letzten Auftritt des Chors vorliest: »Der Chor strahlte mit stimmlicher Freude den Senioren entgegen.« Als die Singenden Kein schöner Land anstimmen, weht der Wind Haare und Röcke nach hinten und zeigt ein paar Sekunden lang mehr Figur, als die braven Chordamen in ihren langen Röcken ursprünglich geplant hatten.

Polizisten chauffieren Kinder durchs Gelände in Feuerwehrautos, die früher ausschließlich für die SED-Siedlung bereitstanden. In einem Polizeiwagen quetschen sich acht Kinder auf dem Rücksitz und vier sitzen vorne. Der Kleinste läßt die Sirene losheulen, so daß der Chor auf der Bühne durcheinandergerät. Die Erwachsenen amüsieren sich vor Pommesbuden und Verkaufsständen. Die Deutsche Bank informiert über günstige Kapitalanlagen und die Fa. Horst Müller bietet Marmorwände fürs Badezimmer an. Zwei Stände weiter sammelt eine Bürgerinitiative der Eigenheimbauer Unterschriften gegen Zinswucher: »Nach der Vereinigung haben die Sparkassen die Zinsen von vier auf neun Prozent angehoben, mit dem Argument, das sei jetzt marktüblich. Die machen uns arm«, beschwert sich eine Frau.

Wer keine Lust hat zu kaufen, wandert durch die Siedlung und drückt sich die Nase am Honecker- Haus platt. »Weißte, das war mal spannend, weil die sich so abriegelten. Aber wenn man diese Häßlichkeit sieht!« sagt eine alte Dame zu ihrer Begleiterin. Es klingt enttäuscht und frustiert. Hätten sie die SED- Riege aus luxuriösen Villen mit prachtvollen Aufgängen verjagt, wäre die Vertreibung ein Triumph gewesen. Aber es ist unmöglich, auf die Reichen und Mächtigen wütend zu sein, wenn ihre angeborene Geschmacklosigkeit sie dazu verurteilt, sich Brillantringe zu kaufen, die aussehen, als seien sie aus dem Kaugummi-Automaten gezogen.

641 Stasi-Angestellte umhegten und umpflegten hier 23 Familien des Politbüros. Die Siedlung konnte völlig autark überleben. Von der eigenen Stromversorgung bis zum eigenen Schuster gab es alles. Komfort war für die oberen 23 gleichbedeutend mit perfekter Versorgung, einschließlich der eigenen Gardinennäherin. Luxus war Versorgung plus Sicherheit. Den inneren Ring, in dem die SED-Führung wohnte, durften selbst von den Stasi-Angestellten nur einige Auserwählte betreten.

Auf dem Fest kommt inzwischen Stimmung auf. Eine russische Kapelle spielt auf. Der Sänger, ein kleiner dicker Mann, singt mit begnadetem Tenor lustige Melodien. Einige Zuschauer klatschen zaghaft mit. Begeisterte Zwischenrufe, als schmalhüftige Tänzer über den holprigen Grasboden wirbeln. Perfekte Produkte sowjetischer Tanzkunst. Das festgefrorene Lächeln auf den Gesichtern der Tänzer erzählt von schweißtreibender Arbeit und Drill. Aber 64 Jahre Sozialismus haben ihnen weder Anmut noch Talent austreiben können. Anja Seeliger