Die Bedrohung der Schriftzeichen

„Der Weg von der Sprache ins Gefängnis hat in China Tradition“, sagt der regimekritische Lyriker Yang Lian. Er hatte das Glück, am 4.Juni 1989 nicht auf dem Platz des Himmlischen Friedens, sondern im Ausland gewesen zu sein. Doch dieses Glück ist bitter: Mit dem erzwungenen Blick von außen konstatiert der Exilierte die sich „stetig weiterfressende Fäulnis“ der chinesischen Kultur.  ■ VONYANGLIAN

„Manchmal, wenn ich so ganz allein im Schein meiner Lampe sitze, dann denke ich darüber nach, wie es Euch da draußen wohl jetzt ergehen mag. Dabei habe ich dann immer so ein Gefühl, als ob ich hier irgendwann bei lebendigem Leibe verschimmeln werde. Daß auch Du mir in Deinen Gedichten ganz ähnliche Gefühle mitteilst, das hätte ich nun wirklich nicht gedacht, auch wenn es sich natürlich bei Dir um eine ganz andere Art von langsamem Verfaulen handelt.“

Der Freund, der mir diese Zeilen geschrieben hat, lebt in Peking. Ich kann mich noch gut an seine nach Norden gehende kleine Wohnung erinnern, vollgestopft mit Büchern, irgendwo hineingeschachtelt in den Wohnbezirk aus grauen Hochhäusern, denen wir den Spitznamen „Lagerhäuser für Menschen“ gegeben haben. Wenn man die moderne chinesische Literatur als ein Firmament begreift, so gab es vor noch nicht allzu langer Zeit eine Vielzehl solcher Wohnungen, aus denen sich dieses Himmelsgewölbe einmal wie aus einem Netz funkelnder Sterne zusammengesetzt hat. Heute allerdings gibt es für diejenigen, welche diese Zeit übelebt haben, nur noch das eine Gefühl, daß die Toten sie verstoßen und sich bereits von ihnen abgewendet haben. Die Toten sind weggegangen, noch während des Feuerns der Gewehre; was sie und hinterlassen haben, ist ein Dasein, das sie selbst nicht mehr zu ertragen bereit waren. So überlassen sie es uns Überlebenden, zu den Augenzeugen einer sich stetig weiterfressenden Fäulnis zu werden.

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Blut, oft ist es nicht mehr als eine Touristenattraktion. Nur zwei Jahre nach dem Massaker treten sich die Besucher auf dem Platz des Himmlischen Friedens schon wieder auf die Füße. Denn genau wie die Mafia weiß auch die Kommunistische Partei, daß die Sprache der Gewehre noch immer die überzeugendste ist. So haben denn auch die Japaner China ganz schnell wieder ihre sogenannte Entwicklungshilfe zur Verfügung gestellt, woraufhin die Vertreter der großen taiwanesischen Firmen sich natürlich nicht lumpen lassen konnten und bald das gleiche taten. Nachdem Ministerpräsident Li Peng sich bereits am 4.Juni mit Blut vollgesogen hatte, ist es ihm damit nach einer nochmaligen Bluttransfusion durch die westlichen Länder erneut gelungen, auch aus dieser politischen Auseinandersetzung als Sieger hervorzugehen.

Zeitgleich hierzu haben die Anfang dieses Jahres zu hohen Gefängnisstrafen verurteilten kritischen Intellektuellen Wang Juntao und Chen Ziming vor Gericht die Verteidigung der ermordeten Studenten übernommen — mit Stimmen, die ebenso leer waren wie der Raum, in den sie sich damals befanden. Weder hatte man das Fernsehen zugelassen, noch durften irgendwelche Mitschnitte gemacht werden, die Zeitungen hatten niemanden zu schicken gewagt, und auch auf der Zuhörerbank konnte man keine Menschenseele entdecken. Wenn es nicht jenen namenlosen Helfer gegeben hätte, dem es gelungen war, einen Kassiber nach draußen zu schmuggeln, man wüßte bis heute nicht, was sich damals in diesen Räumen zugetragen hat. Zu dreizehn Jahren Haft hat man Wang und Chen verurteilt. Bereits 1979, als die chinesische Reformpolitik weltweit Furore machte, hat man schon einmal einen demokratischen Intellektuellen für seine Gesinnung verurteilt, Wei Jingsheng ist damals zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der Fortschritt einer Dekade chinesischer Reformpolitik besteht also darin, daß die langjährigen Haftstrafen für Unschuldige um 24 Monate geringer ausgefallen sind. Nicht erst seit Neuestem sind sich die chinesischen Intellektuellen der Bedrohung bewußt, die von den Schriftzeichen ausgeht, welche sie mit schwarzer Tusche auf weißes Papier kalligraphieren. Der Weg von der Sprache ins Gefängnis hat in China Tradition. So ist Wei Jingsheng inhaftiert, weil er sich in seinem Aufsatz Über die fünfte Modernisierung für eine politische Demokratie ausgesprochen hat. Wang und Chen sitzen hinter Gittern, weil sie es wagten, eine private „Akademie der Sozialwissenschaften“ zu gründen, die erste bürgernahe Organisation in China.

Der antitraditionalistische Vorkämpfer Liu Xiaobo wiederum hat sich um sein Vaterland verdient gemacht, indem er öffentlich verkündete, er habe auf dem Platz des Himmlischen Friedens keine Toten gesehen habe. Damit konnte er seine Unschuld nachweisen und kam sofort frei. Wenn man bedenkt, daß es Liu gewesen war, der den chinesischen Intellektuellen auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Brustton der Überzeugung ihre Feigheit zum Vorwurf gemacht hatte, sollte man sich da nicht fragen, wer hier eigentlich auf die Anklagebank gehört?

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Es war im Dezember 1989, als mir eines Tages von einem Freund in China die Nachricht zugespielt wurde, zwei meiner Gedichtbände seien verboten und mein Name aus einem von mir lektorierten Buch gestrichen worden. Ich wußte sofort, dies werde den Beginn meines Exils bedeuten, jenes realen Exils, das wir alle schon vor langer Zeit als die notwendige Form unseres bereits in China begonnenen geistigen Exils erkannt hatten. Es kann wohl keiner genau sagen, wie viele Publikationen der Zensur nach dem 4. Juni zum Opfer gefallen sind, es ist jedoch bekannt, daß zum Teil ganze Reihen, wie zum Beispiel Die Bewußtseinswerdung des Menschen oder In Richtung Zukunft eingestellt werden mußten. Manchmal geschah dies als Folge von Warnungen, welche die Lektoren erhalten hatten, oder auch einfach aus einem Gefühl der Angst und des Terrors heraus; in den meisten Fällen war es jedoch so, daß alle Bücher, in denen die Namen der im Ausland befindlichen Exilanten oder der noch in China lebenden „Banditen“, ungeachtet ihres Inhalts, durchweg für verboten erklärt wurden. Nicht Wirtschaftlichkeit, sondern das Kalkül der Macht ist das ausschlaggebende Kriterium. Und um die Gedanken wie in einem Gefängnis kontrollieren zu können, rottet man Widerstand am besten gleich mit Stumpf und Stiel aus.

Folgendes Beispiel scheint mir geeignet, das Dilemma zu beleuchten, in welchem sich die chinesischen Kunstschaffenden zur Zeit befinden: Obwohl für die diesjährige Berlinale zwei chinesische Filme als Festivalbeiträge vorgesehen und bereits angekündigt waren, ist einer der beiden Filme, Die alte Mühle, noch in letzter Minute von der chinesischen Seite zurückgezogen worden. Es war in der zur Verfügung stehenden Zeit angeblich nicht möglich, der Delegation, die diesen Film in Berlin vorstellen sollte, Reisepässe auszustellen. Im Gegensatz dazu konnten die Vertreter des zweiten Films, Der Eunuch Li Lianying, die ja eigentlich den gleichen zeitlichen Zwängen ausgesetzt war, rechtzeitig in Berlin eintreffen. Der „Eunuch“, der dann von dieser Delegation in Berlin vorgeführt wurde, entpuppte sich als eines jener typischen Machwerke, wie sie aus einem Kompromiß hervorgehen, der zwischen Politikern und Künstlern ausgehandelt ist.

So wurde Li Lianying, der Mann, dem man die Gentalien abgeschnitten und den man als Sklaven der Kaiserin und des Reiches nicht nur körperlich, sondern auch seelisch verstümmelt hatte, in diesem Film plötzlich als ein von „normalen menschlichen Gefühlen“ erfüllter Alter dargestellt. Darüber hinaus wurde jene Szene, in welcher der Eunuch kurz vor dem Tod sein im Wind getrockentes Glied langsam zerkaut und hinunterschluckt, so lange geschnitten, bis sie ihre einst so schockierende Wirkung verloren hatte. Für den begabten Nachwuchsregisseur dieses Films — er stand bis dahin fast ausschließlich auf der schwarzen Liste — bedeutete die Ausreiseerlaubnis nach Berlin im Grunde, daß er die Auseinandersetzung mit den Zensoren verloren hatte. Ich kann verstehen, daß er, trotz aller Bitterkeit, kaum anders handeln konnte. Aber haben wir nicht schon viel zu oft immer wieder derartig „Verständnis“ gezeigt?

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Freunde von mir bezeichnen den offiziellen chinesischen Schriftstellerverband als jene in chinesischen Gefängnissen anzutreffende, in keiner Dimension mehr als einen Meter messende Folterzelle, in welcher der Häftling weder stehen, noch sitzen oder liegen, sondern nurmehr in einer geduckten Haltung verharren kann.

Ich empfinde offen gestanden kein allzu großes Mitleid mit jenen nach dem Massaker von 1989 in der Versenkung verschwundenen Kultusministern und Chefredakteuren, die nun keine großen Bankette mehr geben oder irgendwelche Sinologen zur Übersetzung ihrer Werke verdonnern können und die sich nun dafür schämen, daß sie in ihrem Geldbeutel nur mehr ihr Gehalt entdecken. Im Unterschied zu gestern führen sie heute ein Leben, das sich dem normalverdienender Leute beträchtlich angenähert hat — ein Umstand, der die einstmals Privilegierten außerordentlich betroffen macht.

Diejenigen, welche jetzt die Macht in Händen halten, sind keine anderen als die vor Deng Xiaoping in die Knie gegangenen Anhänger der Methoden Mao Zedongs, von Altersschwachsinn und Neid auf die Jungen gezeichnete Väter, die ihre Söhne am liebsten umbringen und ihre Töchter am liebsten vergewaltigen würden. Lediglich mit der Einbildungskraft von Bauern begabt, erlauben sie den jungen Leuten zwar, Karaoke — Schlager — zu singen, jedoch nur zum elektronischen Playback vom Lied Vorsitzender Mao, Du rote Sonne in unserem Herzen. Es darf auch getanzt werden, aber lediglich so lange der Rhythmus von dem Lied Ohne die Kommunistische Partei gäbe es kein neues China vorgegeben wird. Private Bücherstände sichern sich ihre Konzessionen, indem sie die Ausgewählten Werke Deng Xiaopings an exponierter Stelle in ihre Auslage aufnehmen... So haben die Machthaber sich ihre eigene Methode entwickelt, um sich in Sicherheit zu wiegen.

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Auch wenn ich hier leider keine Namen nennen kann, es gibt sie noch, die Schriftsteller in China, die, ohne viel Wesens darum zu machen, weiterschreiben, und auch, wenn sie scheinbar schweigen, Buch führen über die Demütigungen, denen die Menschen in dieser Zeit ausgesetzt sind. Der Platz des Himmlischen Friedens wird auch weiterhin die Besucher anziehen, sowohl die Unterdrücker als auch ihre Gegner, all jene, die überlebt haben und deren gemeinsames Schicksal nun darin bestehen wird, zu den Augenzeugen ihrer eigenen Verwesung zu werden. Mein Freund hat mir hierzu geschrieben: „Ich gehe davon aus, daß ich noch mindestens zehn Jahre schweigen muß...“ Was für ein Optimist er ist! Dieser Apfel ist zu groß geraten. Es hat schon öfter 100 oder 200 Jahre gedauert, bevor sich nach den ersten Anfängen auch der Kern als völlig von der Fäulnis zerfressen offenbarte. Um das zu wissen, muß man nur ein bißchen in den Geschichtsbüchern blättern.

Yang Lian kam 1955 in Peking zur Welt. Während der Kulturrevolution wurde aufs Land geschickt; dort begann er seine ersten Gedichte zu schreiben. Ab 1977 war er in Peking Mitherausgeber der inoffiziellen Literaturzeitschrift 'Today‘. Der gegenwärtig in Berlin lebende Yang Lian zählt seit Ende der siebziger Jahre zu den modernen Lyrikern Chinas. Zur Zeit des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens befand er sich in Neuseeland und konnte bisher nicht nach China zurückkehren.

Aus dem Chinesischen übertragen von Mark Renné.