Der andere Fragonard

■ Die Kunst des Präparierens, ausgestellt im monsterkundlichen Museum in Paris

Jean-Honoré entstammte der provencalischen Rosenwasserfabrikantensippe der Fragonards, und niemand malte Menschenkörper so ätherisch, so unfleischlich wie er, der galante Schüler von Boucher, der Stolz der Familie. Nur — da gab es noch diesen anderen Fragonard, einen Cousin gleichen Namens, der oben in Paris, in der königlichen Veterinärschule von Alfort, anderen Künsten nachging — schaurigen Künsten. Von ausgestopften Leichnamen ging die Rede, von morbiden Schaustellungen und tanzenden Monstern ...

Was Fragonards Cousin in seiner Präparierkammer wirklich getrieben hat, ist jetzt endlich zu besichtigen, nach zwei Jahrhunderten der Verborgenheit. Im April wurde in der Pariser Banlieue das „Musée Fragonard d' Alfort“ eröffnet — eine höchst erstaunliche Sammlung. Nachdem sich der Besucher durch eine Formation von Kamel-, Stier-, Giraffen- und Pferdeskeletten geschoben und auch die Zyklopen, Sirenen, Hermaphroditen, die Bicephalen und Rhinocephalen der Teratologie, der monsterkundlichen Abteilung, durchquert hat, erwartet ihn— der sagenumrankte „Chevalier“ von Fragonard. Roß und Reiter in vollem Galopp, den Schweif nach hinten geworfen, das Pferdemaul keuchend aufgerissen, der Blick des Chevaliers starr in die Ferne gerichtet. Entstehungszeitraum: irgendwann in den siebziger Jahren des 18.Jahrhunderts. Dürers apokalyptische Reiter standen dem Meister Modell, aber um wieviel apokalyptischer ist doch Fragonards Komposition. Denn das Material des Künstlers waren weder Gips noch Farbe oder Marmor, sondern — Körper mit Fleisch und Nerven und Haut und Haar. Kadaver, die Fragonard von den Pariser Totengräbern, den Abdeckern und Tierärzten zur Verfügung gestellt wurden, um sich in der Kunst des ästhetischen Präparierens zu üben. Leibhaftige Kunst. Denn um nichts anderes als Kunst ging es Honoré Fragonard. Er wollte den vergänglichen Körper nicht nur für alle Zeiten konservieren, er wollte ihn auch, ebenso wie sein Cousin, der Maler, zum Ausdruck eines Schönen und Wahren machen. Es genügte ihm nicht, die Muskeln, Nerven und Adern dreier Föten zu präparieren, nein: das Zwergentrio mußte außerdem ein graziles Menuett tanzen... Zu sehen im Schaukasten in Maison-Alfort. Oder der „Samson“. Ein furchterregender Riese, der den Unterkiefer eines Esels schwingt und wild in alle Richtungen schielt. Um den Ausdruck zu verstärken, präparierte Fragonard seinem Samson Blumenkohlohren, eine gebrochene Nase und einen mittels Wachsinjektionen erigierten Penis an.

Fragonard wurde 1771 von seinem Direktor Bourgelat für verrückt erklärt — „sowohl der Haß als auch Liebe können zum Wahnsinn führen. Der arme Mann ist in der Tat vollständig und im ganzen Wortsinne verrückt“ — und entlassen. Er arbeitet von nun an im stillen für private Sammlungen und taucht erst wieder auf, als an Material für seine Kunst kein Mangel mehr herrscht. 1792 findet sich ein Rapport, in dem ein gewisser Honoré Fragonard dem Legislateur vorschlägt, ein Nationales Anatomisches Kabinett einzurichten und die ganze, nun endlich aufgeklärte Nation mit Präparaten zu versorgen. Das Projekt kommt nie zur Ausführung.

Wie es Fragonard gelang, an einem ganzen Körper gleichzeitig Nerven, Muskeln und Blutgefäße zu präparieren, ist bis heute ein nicht geklärtes Rätsel. Es sind keine Aufzeichnungen erhalten, keine Injektionsrezepte, Vorlesungsmitschriften oder Zeichnungen. Erhalten ist das Oeuvre. Fragonard starb am 16. Germinal des Jahres VII (1799), sein Körper ist nicht überliefert. Alexander Smoltczyk

Musée Fragonard d' Alfort, Ecole Nationale Vétérinaire d' Alfort; 7, avenue du Général de Gaulle, 94.704 Maison-Alfort (Métro: „Ecole Vénaire). Tägl. außer Di. von 14-18 Uhr geöffnet, Sa. und So. 10-17 Uhr,

Tel.: 0033-1-43967172