Gepflegter Rhythmus

Das Deutsche Jazzfestival 1954 und 1955 auf acht CDs  ■ Von Adrian Wolfen

Zehn Jahre nach Kriegsende traf sich die Elite des deutschen Jazz zum dritten Mal auf dem damals renommiertesten deutschen Jazzfestival in Frankfurt. Das Jutta Hipp Quintett, die Hans Koller New Stars, das Rolf Kühn Quintett, Albert Mangelsdorff und Caterina Valente, das Kurt Edelhagen Orchester und das Johannes Rediske Quintett — sie alle und noch viel mehr waren dabei, als es in den fünfziger Jahren auch auf musikalischem Wege wieder darum ging, zu sagen: „Wir sind wieder wer!“ Denn, daran muß beim Wiederhören mit der damals entstandenen Musik erinnert werden, Mitte der fünfziger Jahre war man wieder wer in Deutschland. Aber wer?

Es war jedenfalls mehr als ein bißchen Lebensübermut und ein Stück Selbstbehauptungswillen, der die Musiker damals Anleihen beim Traditional Jazz, bei Swing, Bebop und hauptsächlich beim Cool Jazz machen ließ, denn zu hören war allseits auch das ernsthafte Bemühen, aus der Musik ein Medium der Vergangenheitsbewältigung zu machen. Und so wurde dann angespielt gegen den Hautgoût der Dekadenz, der dem Jazz seit den zwanziger Jahren in Deutschland anhaftete; angespielt wurde auch gegen die als „Swing- Heinis“ apostrophierten Freunde des „american way of life“ ihre Vorliebe mit KZ-Aufenthalten bezahlten.

Gespielt wurde Jazz nun als das ganz Andere, das nun das Eigentliche sein sollte: Gegenüber den wüsten Klangkaskaden auf der Klaviatur der Emotionen, die in der Nazi- und Nachkriegszeit angeschlagen wurden, konnte der Jazz, Symbol für alle mit Amerika gekoppelten Freiheitswünsche, als Umsetzung kühler Vernunft in eine völkerverbindende Musik empfunden werden. Aus dem Jazz, der „wilden Musik“, sollte nun ein gehobenes „Kulturgut“ werden, und insofern verwundert es nicht, daß eine klare Melodieführung, eine saubere Instrumentierung und ein gepflegter Rhythmus das kühl-distanzierte, Klangbild bestimmten.

Aber dieses Kalkül ging nicht auf. Es entstanden Widersprüche, die sich hörbar im musikalischen Material niederschlugen und tief hineinhorchen lassen in die deutsche Geschichte und Psyche während jener Jahre. Da sang etwa Wolfgang Sauer, der „deutsche Ray Charles“, mit sonorer Stimme den Blues, und das mag ein ehrlich gemeinter Solidaritätsbeweis mit den „Negern“ gewesen sein — nur heute hört es sich eben peinlich an, eben nach einem Deutschen, der einen Schwarzen imitiert, ohne die typischen Blues- und Jazzunreinheiten.

Gleichwohl, der teils bewußt, teils unbewußt vollzogene Kotau vor den in der jungen Bundesrepublik damals so beliebten Werten wie Sauberkeit, Reinheit und Disziplin war nicht die einzige Bewegungsmöglichkeit, die der Jazz bot. Es gab auch noch den gewissen „side-kick“, der dem Jazz die Reputation des Anti- Bürgerlichen bewahren half.

Auf den über 520 Minuten Musik von den deutschen Jazzfestivals 1954/55 ist genug Material vorhanden, um der dort gespielten Musik ein gewisses Widerstandspotential gegenüber den seinerzeit so beliebten Benimmbüchern der Erica von Pappritz zuzusprechen. Zugegeben, die Two Beat Stompers klingen arg nach Salzstangen und Nierentischen, aber das Wolfgang Lauth- oder das Freddy Chistmann-Quartett, das Paul Kuhn- oder das Helmut Weglinski-Quintett, die klingen schon mehr nach Hemingway, Sartre oder Camus. Recht gehört war es auch ein Spiel, mitunter sogar ein verzweifeltes, um die eigene Identität.

Insofern besteht der Reiz dieser Aufnahmen gerade aus der Widersprüchlichkeit zwischen den Erfordernissen eines domestizierungswilligen Zeitgeistes und dem Widerstandsvermögen eines „ungebärdigen“ musikalischen Materials. Das läßt aufhorchen, gerade auch, weil eine derartige Problematik auch Jahrzehnte nach 1955 nicht passé ist.

Tatsächlich brach ja die Chronologie der Ereignisse nicht ab, nicht nach 1945, nicht nach 1955. Und ebenso wie die Geschichte Deutschlands, ist auch die des Jazz hierzulande eine von großen Hoffnungen, vielen Enttäuschungen und von vertanenen Chancen. Nicht ganz zu unrecht hieß es, daß in Deutschland ein Jazzmusiker, der sich weigere, Konzessionen zu machen und etwas anderes als „echten“ Jazz zu machen, auf keine Karriere hoffen könne. Und so ging Jutta Hipp, das „Mädchen am Klavier“ in das Heimatland des Jazz, um dort Karriere zu machen. Sie scheiterte, obwohl von maßgeblichen Kreisen gefördert. Andere gaben einfach auf.

Glücklich reüssierten nur diejenigen, die die Entscheidungsfrage zwischen Jazz und Unterhaltungsmusik nicht im Sinne einer radikalen Alternative stellten. Auch sie waren in den „Fifties“ schon dabei, und wer insgesamt die Geschichte des deutschen Jazz mit derjenigen der Unterhaltungs- und Schlagermusik vergleicht, wird immer wieder auf ehemalige Jazzer stoßen, die späterhin eine wundersame Wandlung durchmachten: Ernst Mosch, Helmut Zacharias, Max Greger, Paul Kuhn, James Last und zahlreiche andere...

Im Nachhinein mag es leicht fallen, die Musik von damals zu hören und beckmesserisch mit dem Finger auf diese oder jene etwas zu gefällig geratene Akkordfolge, auf diesen oder jenen etwas zu steif geschlagenen Rhythmus zu deuten, um spätere Entwicklungslinien à la „Hier Jazz, dort Schlager“ grimmig zu vermerken. Doch ohne jene, die die „heilige Sache des Jazz“ zugunsten des Kommerz „verrieten“ und in der Schlagerbranche für die richtigen Flötentöne sorgten, wäre die deutsche Unterhaltungsmusik wahrscheinlich noch schlechter als ihr Ruf. Und daß der Jazz in den sechziger Jahren als Pappis Musik galt und eher mit einem etwas altbackenen Geruch als mit dem Flair der Bohème ausgestattet war, war weniger die Schuld der verbliebenen Jazzer, sondern hatte mehr mit den Jungs und Mädels zu tun, die der Rockmusik den Vorzug als Medium identitätsstiftender Aufmüpfigkeit gaben.

Deutsches Jazzfestival 1954/1955 (8CDs), Bear Family Records, P.O. Box 1154, 2864 Vollersode