Das entwendete Bild

Zeichnungen von Jannis Kounellis — eine Ausstellung in Hannover  ■ Von Michael Stoeber

Jannis Kounellis malt mit schwarzer Kohle und weißer Baumwolle. Er malt mit weichem Frauenhaar, das verletzlich aus den zwei schmalen Spalten einer Stahlplatte quillt. Er malt mit Feuerzungen, die über schwarzgrauen Bleigrund lecken. Er malt mit dem farbenprächtigen Schwanz eines Papageis und den spitzen Blättern von Kakteen. Und mit dem betäubenden Duft von Grappa, der in 14.000 zerbrechlichen Gläsern schwappt, auf denen bizarre Eisenplatten liegen. Oder mit der klaren und einfachen Form von einem weißen Ei auf einem Stahlblech. Er malt mit der Erinnerung an das magische Quadrat Malewitschs, an das byzantinische Gold, an die zerbrochenen Formen des Apoll von Belvedere, an Masaccio und van Gogh. Er malt mit einem kleinen elektrischen Zug, der seine einsamen Spiralen um einen Pfeiler im Kloster Santa Maria Novella in Florenz zieht, und mit Dutzenden alter Singer-Nähmaschienen in einem verlassenen Industrieloft in Chicago. Er malt mit dem Namen Ensors und einem Musikfragment aus Verdis Nabucco. Er malt mit einer Flamme, die aus der Blüte einer metallenen Margerite sticht, und mit einem Feuer, das die Buchstaben seines Namens illuminiert. Die Installationen von Kounellis wirken auf den ersten Blick verrätselt und verwirrend. Immer aber haben sie großen poetischen Reiz.

1960 malt er seine Bilder tanzend, einen Choral auf den Lippen, eine Papiertiara auf dem Kopf. Der Künstler als Messias und Verkünder, Pan und Prophet. Gesamtkunstwerk à la Kounellis. In der Galerie von Lucio Amelio in Neapel brennen drei Tage lang Feuer, Erinnerung an die eingeäscherten Bibliotheken der Antike. In Chicago läßt er einen Schornstein aufmauern, zeigt Spuren von kaltem Rauch, erloschener Glut: Symbol einer Industrialisierung, die längst nekrophile Züge angenommen hat. Kounellis transformiert die Räume von Museen und Galerien. In Rom hängen riesige, rohe Rinderhälften wie der gehäutete Marsyas vom Schlachterhaken. Ein brutales memento mori à la Kounellis. Im Gropius-Bau in Berlin vermauert er Fenster und Türen mit Zivilisationsmüll und Fragmenten der Kulturgeschichte. In der Galerie L'Attico führt er dem staunenden Publikum zwölf veritable Pferde vor, die dort stampfen und wiehern, fressen und scheißen. Das Lebendige gegen das Tote, Natur gegen Kultur? Viel zu einfach! Für den Ausstellungsmacher Rudi Fuchs galoppieren diese Pferde durch die Kunstgeschichte, vom Parthenon über Caravaggio bis zu Géricault und Picasso.

Die Kestner-Gesellschaft in Hannover zeigt jetzt eine Übersicht seiner Arbeiten auf Papier. Dabei ist die Zeichnung für Kounellis nicht immer ein „medium sui generis“, sondern darunter befinden sich zahlreiche Skizzen, Notate und Ideenstenogramme. Unter dem Titel Frammenti die memoria halten sie die Erinnerung wach an die großen szenischen Auftritte und Installationen des Künstlers. Da finden sich großartige Gouachen. Schwarze Acrylzungen, markiert von blaßbraunen Brandzeichen, lassen an Aktionen denken, in denen Kounellis die ruinöse und reinigende Kraft des Feuers in Anschlag gebracht hat. Für ihn die künstlerische Metapher schlechthin für Geburt und Tod, Verwandlung und Erneuerung. Prometheus, der Feuerdieb, als Urbild des Künstlers. Immer wieder erkennt man in diesen Blättern die Motive seiner Objekte und Inszenierungen: der aufgemauerte Schornstein und der Ofen aus der Atelierszene Delacroix, Schriftzug und Kerze zu Marat/Robbespierre, Wand und Garderobenständer aus der Tragedia Civilie, zu besichtigen auf der VI. Dokumenta 1977 in Kassel, die Kinderschuhe und das Schiff Ensors. Zarte Aquarelle verweisen auf die zugemauerten Türen und Fenster in Krefeld, Basel und Berlin. Sodann sind da die Skizzen seiner szenographischen Arbeiten in Turin und Mailand, für eine Schönberg- Oper in Amsterdam und für die Mauser-Inszenierung Heiner Müllers in Berlin, dessen „theatralische Visionen“ er schätzt.

Daneben gibt es völlig autonome Einzelblätter und Serien zu besichtigen, die so noch nie gezeigt wurden und die den Reiz der Ausstellung begründen. Die Leihgaben kommen aus öffentlichen und privaten Sammlungen in aller Welt und dürften so schnell nicht wieder zu sehen sein.

Gezeigt wird eine Serie früher Blätter, großformatige Stempelbilder aus den sechziger Jahren, Blockbuchstaben, schwarze Zahlen und Pfeile. Eine unpersönliche Symbolsprache, die den Versuch unternimmt, die Handschrift des Informel und des abstrakten Expressionismus hinter sich zu lassen. Die Suche nach einer neuen Ästhetik und ein neu erwachendes, politisches Bewußtsein. Zeit der ersten Happenings und eine Art Neo-Dada mit den Mitteln des experimentellen Musik- und Sprechtheaters. Als Kounellis in Rom seine Buchstabenbilder malt, ziehen in Düsseldorf die Anhänger von Piene, Uecker und Mack in bedruckten Papiergewändern durch die Straßen und feiern die Geburtsstunde von Zero.

Kounellis wird später in seinen Aktionen immer wieder lebende Bilder, „tableaux vivants“, ausstellen, und der Künstler selbst wird oft genug als Akteur Teil der Inszenierung sein. Ob er nun hoch zu Roß mit der Maske des Apoll in die Galerie von Ileana Sonnabend reitet oder mit eben dieser Maske hinter einem Tisch sitzt, vor sich die Fragmente antiker Plastiken, zur Rechten den ausgestopften Poeschen Raben, neben sich einen Flötisten, der ein Stück von Mozart spielt. Sein Problem ist, so wird er einmal sagen, logisch denken zu müssen und verrückt wie Orlando sein zu wollen. „Sono logico e voglio essere folle come Orlando.“

Aus dem Jahre 1974 werden Aquarelle und aquarellierte Bleistiftzeichnungen gezeigt, ein Zyklus aus 18 Blättern, der die in Italien äußerst populäre Brecht-Schauspielerin Lotte Lenya in Erinnerung ruft, wie sie Kounellis noch von Bühnenauftritten her kennt. Bilder, die ein Profil oder ein Halbprofil zeigen, dann wieder nur den Oberkörper oder die Bewegung der Hand, den Fall der Haare. Momentaufnahmen aus Farbe und Bewegung, die sich zu einer aufregenden Sequenz ergänzen.

Gegen Ende der siebziger Jahre fertigt Kounellis eine weitere Serie, zwei Zyklen aus jeweils 12 und 13 Bildern, alle im selben Format 60*60cm. In einer Umkehrung seiner sonst gehandhabten Technik, Bleistift, Feder, Kohle auf Leinwand, ritzt Kounellis hier seine Linien in eine kompakte Ruß- und Kohleschicht. Es sind fragile Porträts von Lebenden und Toten. Man weiß kaum zu unterscheiden, ob sie dem Vergessen entrinnen oder ihm anheimfallen, so flüchtig, zart und transitorisch erscheinen sie.

Ihnen gegenüber ein plakatives, dennoch eindringliches memento mori. Große, braungetönte Papierbahnen, die wie Rollbilder ungerahmt von der Wand hängen, zeigen Berge von Schädeln. Schwarze Totenköpfe, die an Munchs Schrei erinnern. Das apokalyptische Pathos wird gedämpft, wenn Kounellis das Bild zum Bildobjekt umarbeitet, indem er das Motiv durch eine Bleifolie verhängt. In einem anderen Fall evoziert ein Metallgitter die Erinnerung an ein römisches Kolumbarium.

Daneben sehen wir eine Reihe von Einzelblättern, lineare Porträtdarstellungen, deren harmonische Profillinien an klassische Schönheitsideale denken lassen, wie sie auch Picasso in seiner klassizistischen Phase gemalt hat.

Aber ganz ohne Installation kommt auch diese Übersicht über das zeichnerische Werk nicht aus. In der Tat gehört zum Eindrücklichsten dieser Ausstellung — übrigens die einzige Kounellis-Ausstellung in diesem Jahr in der Republik, nachdem Köln und Hamburg nicht zustande kommen — sein Memorial zu Ehren eines großen Kollegen, Hommage à Vincent van Gogh. Eine stumme, stille, sehr hermetische Serie von 31 Eisenplatten, die Kounellis nach den Formaten van Goghscher Landschaftsbilder hat zuschneiden lassen, die im Amsterdamer Reichsmuseum hängen. In ihnen finden sich zwei längliche, oben und unten ovale Einschnitte, die das blaugraubraun schimmernde Walzblech öffnen. Die so entstandenen Fenster werden von Kounellis zum Teil sogleich wieder geschlossen oder vergittert. Aus den Ritzen oder Öffnungen leuchtet ein kaum wahrnehmbares schwaches elektrisches Licht. Sein gelblicher Schein läßt an das berühmte van Gogh-Gelb denken, das auch in den Zeichnungen hin und wieder auftaucht. Aber auch an Zellenfester und Beichtstühle, an Gefängnisse und Sanatorien, an zwanghafte Zurichtungsprozeduren und damit an die Biografie des Künstlers. Zugeich scheint die Dialektik vom Öffnen und Schließen ein ebenso ernster wie ironischer Kommentar zum van Goghschen Jubiläumsjahr. Dem Künstler, im Jahr seiner Ehrung zum Tode und zur Unsichtbarkeit abgebildet, auf Bierseideln und T-Shirts auf den Hund gekommen, gibt Kounellis durch diese strengen Votivbilder eine neue Dignität zurück. Indem er das Bild wegnimmt und nur noch die Erinnerung daran durch das Format läßt, befreit er die Phantasie des Betrachters und so die Bilder van Goghs zu neuem Leben.

Die Ausstellung ist verlängert bis zum 30.Juni, ein Katalog liegt noch nicht vor.