Kongreßpartei ohne charismatische Führung

Der politische Kommentator der 'Navbharat Times‘ in Neu Delhi, Vishnu Khare, zu den möglichen Hintergründen des Attentats auf Rajiv Gandhi und zur Zukunft der Kongreßpartei/ „Wie der tote El Cid mag der Geist Gandhis seine Partei zum Sieg führen“  ■ Aus Neu Delhi Vishnu Khare

In einem komplexen Land wie Indien haben charismatische Politiker, die auch noch gute Chancen auf einen Wahlsieg haben, Millionen Anhänger — zugleich schlägt ihnen die fanatische Gegnerschaft unzähliger Menschen und politischer terroristischer Organisationen entgegen.

Die bisherigen Untersuchungen nach dem Hintergrund des Attentats auf Rajiv Gandhi durch die nicht gerade brillante indische Polizei scheinen gegenwärtig zu den militanten Befreiungstigern von Tamil Eelam (LTTE) zu führen. Diese sri-lankische Organisation fordert für sich einen unabhängigen Staat auf der vom Bürgerkrieg erschütterten Insel. Allerdings besteht auch der starke Verdacht einer Verbindung zwischen terroristischen Gruppen aus den indischen Staaten Punjab und Assam mit der LTTE. Rajiv Gandhi und weitere 22 Menschen wurden von einem Ein-Frau-Selbstmordkommando getötet. Das Attentat geschah in der kleinen Stadt Sriperumbudur im indischen Staat Tamil Nadu, der von den sri-lankischen Befreiungstigern durchsetzt ist. Hier, so heißt es, werden die Befreiungstiger durch die Dravida Munnetra Kazhagam Partei (DMK) unterstützt, die mit Rajiv Gandhi rivalisierte. Rajivs eigene Kongreßpartei ist in Tamil-Nadu- Staat nur marginal vertreten. Aber sie unterstützt dort die All India Anna Dravida Mennetra Kazhagam Partei (AIADMK). Deren Vorsitzende Jayalalitha ist wiederum gegen die Präsenz der sri-lankischen Befreiungstiger in ihrem Staat. So ist es möglich, daß die Befreiungstiger in ihrer Verzweiflung den grauenvollen Plan der Vernichtung Rajiv Gandhis ausgeheckt haben, in der Hoffnung, dadurch einen sicheren Wahlsieg der Kongreß/AIADMK-Allianz zu verhindern.

Zu dieser Theorie paßt jedoch nicht, was einige respektable Zeitungen aus Madras ebenso wie der vorsitzende der DMK behaupten: Rajiv Gandhi habe erst im März freundliche Kontakte zum Tamil-Tiger-Führer Prabhakaran aufgenommen, weitere Kontakte seien für dieses Jahr geplant gewesen. Der Sprecher der Kongreßpartei hat das dementiert. Sollten diese Berichte dennoch zutreffen, kann dies nur ein Hinweis darauf sein, daß es eine rivalisierende Gruppe innerhalb oder außerhalb der Befreiungstiger gibt, oder — noch schrecklicher — irgendwelche Gruppen, die mit der Regierung Sri Lankas selbst in Verbindung stehen.

Rajiv Gandhi wurde nach dem ersten Wahlgang getötet. Das Schicksal von 204 Kandidaten liegt nun in der versiegelten Wahlurnen. Die Wahlen in 304 Wahlkreisen wurden auf den 12. und 15.Juni verschoben. „Das höchste Opfer“ (wie Kongreßmitglieder es in unverhüllter Dankbarkeit formulieren) Rajiv Gandhis hat alle Kalküle der Wahlprognostiker über den Haufen geworfen. Die Kongreßpartei hat einen älteren und gebildeten, aber kränkelnden Mann, Ex-Minister P.V. Narasimha Rao, zu ihrem Präsidenten gewählt. Der wird im jetzt fast sicheren Falle eines Wahlsiegs der Kongreßpartei möglicherweise nicht der künftige Premierminister, da er sich nicht um einen Parlamentssitz bewirbt.

Wie der tote El Cid mag der Geist Rajiv Gandhis seine Partei zum Sieg führen, wenngleich die rechts-fundamentalistische Bharatiya Janata Partei (BJP) behauptet, es gebe keine Sympathiewelle für den Kongreß im Lande. Doch die wirklichen Probleme für den Kongreß könnten dann beginnen, wenn er an die Macht kommt. Wenn die fortbestehenden Versuche, Sonia Gandhi einzubinden, fehlschlagen sollten, wird die Partei keine allgemein akzeptierte Leitfigur haben. Die im Kongreß dominierenden Mitglieder aus dem kriegerischen Norden könnten unisono versuchen, Narasimha Rao zu stürzen — und daraufhin auseinanderfallen und sich gegenseitig bekämpfen. Ohne Rajiv Gandhi könnte die Kongreßpartei zu einem Schiff ohne Kapitän reduziert sein. Sie wird dahintreiben, und Meuterei und Bandenkrieg folgen. Wenn die Kongreßpartei sich weigert, eine moderne, disziplinierte und demokratische Partei zu sein, ist ihr Zerfall unvermeidlich. Dann läßt sich das Auftauchen (und wieder Verschwinden) verschiedener Splittergruppen voraussehen — darunter sicherlich eine, die sich als Kongreß-(Rajiv)-Partei gerieren wird. Dies würde jedoch zugleich den unwiederbringlichen Verlust der Demokratie bedeuten.

Die indischen Massen verdienen zu recht ihren Ruf bemerkenswerter Weisheit und Widerstandsfähigkeit in Zeiten höchsten Stresses. Gegenwärtig aber ist die politische Führung insgesamt zynischer und inkompetenter als je zuvor, und die Bevölkerung frustrierter, erregter und fragmentierter denn je. Es sollte also nicht überraschen, wenn es in den kommenden Wochen zu weiteren Gewalttaten kommt. Bleibt jedoch das Land zumindest eine zeitlang relativ friedlich und sollte eine stabile und starke Regierung durch den richtigen demokratischen Prozeß gewählt werden — dann wäre das tragische Ende seines jungen Führers, der, mit all seinen Beschränkungen, Versagen, und Schwächen, ein modernes Indien ohne Aufgabe seiner Traditionen in das 21. Jahrhundert führen wollte, nicht umsonst gewesen.