Albaniens Generalstreik zeigt erste Wirkungen

Seit über zwei Wochen streiken 300.000 Arbeiter/ Nun hat das Parlament die Bildung einer parteiunabhängigen Regierung versprochen/ Daß sich die Gewerkschaften damit zufriedengeben, ist jedoch unwahrscheinlich  ■ Aus Tirana Ardian Klosi

Mehr als 300.000 Arbeiter Albaniens befinden sich seit nunmehr 17 Tagen in einem Generalstreik. Mehr und mehr Arbeiter gehen zu einem erbitterten Hungerstreik über: Bergarbeiter im Dunkeln der Stollen, Studenten auf den Treppen ihrer seit Monaten geschlossenen Universität, aufgebrachte Bürger von Shkodra.

Es ist in der Tat die größte Oppositionsbewegung seit Beginn der Unruhen vor mehr als einem Jahr. Bis jetzt war die Unzufriedenheit der Albaner in politischer Hinsicht mehr oder weniger unter Kontrolle. Die kommunistische Führung war geschickt genug, immer einen Schritt vor den Gegnern zu sein. Sie gab nach, aber sie war trotzdem immer Herr der Situation. Besonders klug taktierte sie bei den „freien Wahlen“ von Ende März. Sie ließ das kleinste Übel zu — die Demokratische Partei Albaniens, eine Zusammensetzung aus jungen, ehemaligen kommunistischen Intellektuellen —, in der Gewißheit, diese würden bei den Wahlen nicht mehr als 40 Prozent bekommen. Im Februar und März sorgten die Partei der Arbeit und die Demokratische Partei tatsächlich für einen raschen Stopp der Streiks, bis die Wahlen stattfanden.

Albaniens eigener wirtschaftlicher Weg

Seit Monaten steckt das Land in einer wirtschaftlichen Paralyse. Albanien schlug in den Jahrzehnten des kommunistischen Systems einen absurden ökonomischen Weg ein. Die Meilensteine: Eine erbarmunsglose Kollektivierung aller Güter und aller Menschen (sogar die einzige Kuh wurde dem Bauern „kollektiviert“); Schaffung einer „Schwerindustrie“ mit Geisterfabriken wie dem Hüttenwerk von Elbasan — nach Hoxha „die zweite Befreiung Albanies“, in Wirklichkeit ein riesiger Umweltverschmutzer, der jedes Jahr mehr als 30 Millionen Dollar Verlust macht; die Zerstörung der traditonellen Weideflächen Albaniens, „um das Brot im eigenen Land zu sichern“, der Bau Hunderttausender Bunker, jeder so teuer wie eine Zweizimmerwohnung — unvertilgbare Erinnerungen an Zeiten, als Albanien das Bollwerk des Kommunismus war.

Propaganda und Wahrheit

Auch die jetzige Regierung, jünger und weniger belastet als ihre Vorgänger, stammt aus den Büros des Zentralkomitees und trägt somit die große Last ihrer Partei. Merkwürdigerweise will die Partei nur nach vorne, Richtung Demokratie, schauen, ohne ein Wort über ihre Vergangenheit zu sagen, ohne die von ihr verantwortete Mißwirtschaft und auch ein einziges unter den zahlreichen Verbrechen ihres „legendären“ Führers Enver Hoxha zuzugeben. Diese große Umwandlung, von einem diaktatorischen Etatismus zu einer Demokratie westeuropäischen Musters will die Regierung unter der Präsidentschaft eines Erzideologen, Ramiz Alia, erreichen, der schon zu Hoxhas Lebzeiten Chefpriester der Partei gewesen war.

Für die Albaner geht es jetzt um die schiere Existenz. In der Streikerklärung der Unabhängigen Gewerkschaften steht unter anderem: „Die Regierungen haben uns dauernd versprochen, daß sich die Lage im Januar, im Februar, im März verbessern würde. Es wurde uns gesagt, daß die ausländischen Investitionen und die Kredite bald beginnen würden, aber nichts ist bis jetzt realisiert worden. Es waren alles leere Verprechen, die uns täuschen, uns Hoffnung in unserem langsamen Sterben geben wollten, denn das Leben, das wir führen, ist in Wirklickeit nur der Übergang zum Tod.“

Am Mittwoch, den 29.Mai gingen die Menschen in Tirana auf die Straßen. Sie verlangten den Rücktritt der Regierung Nano. Alles glich dem Auftakt eines großen Krachs. Steine in die Fenster des Innenministerums, angezündete Polizeiautos. Aber die Machthaber verhielten sich besonnen und ordneten keinen blutigen Eingriff wie in Shkodra an. Die unorganisierte Menschenmenge löste sich nach einigen Stunden auf.

Eine Mehrheit im Parlament hat sich am Samstag für die Bildung einer neuen Regierung aus parteiungebundenen Persönlichkeiten ausgesprochen, und so wird Präsident Alia wohl nun schon bald eine Riege von Fachleuten und Halboppositionellen bilden. Aber die unabhängigen Gewerkschaften werden eine solche Regierung wohl nicht akzeptieren. Außerdem gehört zu ihren Forderungen auch die völlige Aufklärung des Massakers von Shkodra und die Verurteilung der Befehlsgeber.

Shkodra

Die Verantwortlichen sitzen vielleicht ganz oben. Obwohl jetzt zwei Monate vergangen sind, seit auf Oppositionsführer und auf die Menge geschossen wurde, ist nichts aufgeklärt worden. Vor der mit Blumen bedeckten Gedenkstätte steht das verbrannte Gebäude des Parteikomitees. Ein Geisterhaus aus den Zeiten des Kommunismus. Denn hier in Shkodra scheint die kommunistische Macht endgültig gestürzt zu sein. Es gibt keine Polizisten mehr zu sehen, geschweige denn spezielle Einheiten wie die „Sambista“. Ein Bürger zeigt das leere verkohlte Gebäude des Parteikomitees und sagt: „Das war nur der erste Streich, es kommen noch andere.“

Der Kommunismus hat in Shkodra nie richtig Fuß gefaßt. Hier war das Zentrum des albanischen Katholizismus, zugleich vielleicht auch das wichtigste Zentrum der albanischen Kultur bis vor dem Krieg. Hier gab es mehrere Schulen und Seminare, Bibliotheken, Druckereien, viele Zeitungen und Zeitschriften. Nach dem Krieg gab es nur die wöchentliche Zeitung des Parteikomitees. Shkodra war immer für seine schönen und zahlreichen Kirchen bekannt, die zu Sporthallen, Kinos, Theater, Depots umfunktioniert wurden. Einige ließ man einfach in die Luft sprengen, so wie die Kirche zu Vau i Dejes aus dem 13.Jahrhundert.

Eine eigenartige Zeremonie fand am Pfingstsonntag im Dom von Shkodra statt. Unzählige Zuschauer sahen zu, wie 4.000 kleine Kinder auf einem Baskettball-Parkett vom Bischof die Kommunion empfingen. Mehr als eine kirchliche Feier war das eine Versammlung gegen die Kommunisten.

Auch in der Hauptstadt Tirana spitzt sich die Lage mit jedem Tag zu. Nach den Auseinandersetzungen vom letzten Mittwoch scheint der Hauptplatz und der große Boulevard nur den Bürgern zu gehören. Die Menschen versammeln sich um das Parlamentsgebäude, ihre häufigsten Sprüche: „Nieder mit der Regierung!“ und „Nieder mit dem Kommunismus!“. Auch der Präsident wird nicht verschont.

Es sind wichtige und unsichere Tage in Albanien.

Der Autor ist albanischer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller