Rechtsstaat wegreformiert?

■ Gesetz „zur Entlastung der Rechtspflege“ unter JuristInnen heftig umstritten

Sie saßen alle in vertrauter Umgebung, aber an ungewöhnlichen Plätzen: Der große Schwurgerichtssaal im Landgericht bildete am Montag abend die Kulisse für eine Podiumsdiskussion, in der das neue „Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege“ auf seine wunden Punkte abgeklopft wurde. Justizsenator Kröning stellte sich über zweieinhalb Stunden den Fragen der Bremer Richter, Rechts- und Staatsanwälte. Die ehrwürdige Zeugenbank diente als Podium, die über 100 interessierten JuristInnen hatten auf der Zuschauertribüne Platz genommen.

Ein neues Gesetz, von den Länderparlamenten über den Bundesrat in die Diskussion gebracht, soll juristische Verfahren formal straffen und so Arbeitskräfte einsparen helfen, die dann zum Aufbau einer funktionierenden Justiz in den neuen Bundesländern gebraucht werden. So jedenfalls stellte es Senator Kröning gestern da. „Unser Justizsystem ist völlig überspannt“, faßte er seine Sparmotivation zusammen und hatte die Zahlen gleich parat. In der alten BRD komme auf 3.460 Bürger ein Richter, in Dänemark dagegen sei das Verhältnis 17.068:1. Da gebe es jede Menge freie Kapazitäten, die abgeordnet werden könnten. Etwa 5.000 Richter und Staatsanwälte werden in den fünf neuen Bundesländern gebraucht.

Ändern wollen die Justizminister der Länder (Kröning: „Mit einigen Modifikationen haben wir 14, vielleicht 15 Länder hinter uns.“) zivile und Strafrechtsverfahren. Auf zivilrechtlicher Ebene sollen

die sog. „Zulassungsberufungen“ eingeführt werden, das heißt: Der urteilende Richter im Zivilverfahren soll selbst darüber entscheiden können, ob der Angeklagte gegen sein Urteil in zweiter Instanz vorgehen kann.

die Kammern der Landgerichte entlastet und mehr Entscheidungen auf Einzelrichter abgewälzt werden,

die Streitwerte für Amtsgerichtsprozesse auf 10.000 Mark erhöht werden, um die Landgerichte zu entlasten,

die Berufungsgrenzen auf 2.000 Mark erhöht werden.

Marianne Strahmann vom Bremischen Anwaltsverein nannte den Katalog eine „Horrorliste“ und bezweifelte Einspareffekte. Und auch Wolfgang Grotheer von der Bremer Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer JuristInnen sah in dem neuen Entlastungsgesetz eine „Rechtsmittelbeschneidung, die wir so nicht hinnehmen werden.“ Amtsrichter Wulf schließlich hatte noch einen pragmatischen Einwand: „Durch die neuen Maßnahmen muß ich als Richter eine Berufung zulassen, weil ich in meinem eigenen Prozeß einen Verfahrensfehler ausfindig gemacht habe. Ich glaube nicht, daß das so funktioniert.“

Schwerer Kritik sah sich Kröning auch bei den Änderungen in der Strafprozeßordnung ausgesetzt. Hier werden nach dem neuen Gesetz

Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr durch einen einfachen Strafbefehl möglich

und bestimmte Zeugen nur noch mit ausdrücklicher Zustimmung des Richters gehört (Änderung des Beweisantragsrechtes).

Reinhold Schlothauer von der Initiative Bremer Strafverteidiger sieht mit diesen Maßnahmen „den Mindeststandart des Rechtsstaates gefährdet.“ Der Angeklagte, dem im Ermittlungsverfahren kaum eine juristische Chance zum Eingreifen gegeben sei, würde durch das neue Gesetz von der Gnade der Richter abhängig. Auch würde durch das komplizierte Zulassungsverfahren zur Revision der Rechtswillkür Tür und Tor geöffnet.

Kröning räunte ein, daß der Strafrechtsbereich „der sensibelste Teil der Rechtsordnung“ sei, über den man noch verhandeln könne. „Wir müssen aber einem Kollaps des Rechtssystems, wie er sich derzeit abzeichnet, entgegenwirken.“ Wenn es nicht gelänge, der Justiz in den neunen Bundesländern schneller und wirkungsvoller auf die Sprünge zu helfen, „können wir unser Strafsystem nicht halten.“ Kröning entwarf ein dunkeles Szenario, in dem der Rechtsstaat auf die Hilfe der Innenministerien angewiesen sei, „und was dann passiert, wage ich nicht auszumalen.“

Kröning versprach zahlreiche Nachbesserungen, für die er sich einsetzen werde, machte aber klar, daß das Entlastungsgesetz in den Bundestag eingebracht wird. Voraussichtlich Ende 1992 soll es nach seinen Angaben in Kraft treten. Markus Daschner