Shakespeares Gladiatoren

■ „Noun“ — Neues von Fura dels Baus bei den Ruhrfestspielen

Recklinghausen ist in diesem gerade anlaufenden Theatersommer der einzige Ort, der genügend Geld für ein außergewöhnliches Summertime-Programm aufbringen konnte. Mehr Zirkus als Theater — aber auf besonderem Niveau. Sei es das Theater Equestre — Zirkuspferde als Schauspieler — oder, und davon sei die Rede, die katalanische Truppe La Fura dels Baus, die seit fünf Jahren Theaterschlachten schlägt.

Eine Schlacht explodierender Feuerwerksgranaten und eines einstündigen (auch auf Platte produzierten) Livekonzerts, das zum Tanz lädt, vielmehr: das zu einer grotesken Interaktion zwingt. Denn man sitzt nicht, die Zuschauer stehen auf der Bühne, Elektrokarren rasen mit verteufelter Geschwindigkeit durchs Publikum (was angenehmer ist, als mit Kettensägen auf das Publikum loszugehen wie in der letzten Produktion Tier Mon). Das Publikum tritt rückwärtsweichend sich gegenseitig auf die Füße; links von mir kommt ein ältlicher Herr unter die Räder, stürzt (ohne Schaden zu nehmen). Der Kritiker Jürgen Richter schrieb zur letzten Fura-Produktion: Dieses Theater „liefert den Sensationssuchern den Boxring, für den sie bezahlt haben, aber es hat die Seile weggelassen, die Publikum und Akteure voneinander trennen.“ Mehr noch: aus einer sich auf- und niedersenkenden Bühnenbrücke erbricht eine Kloake. Zuschauer tanzen freiwillig unter dieser Schlammdusche — Theater?

Theater der Grausamkeit. Manche Zuschauer unter der — bewußt — sich wie Sperma ergießenden Kloake, sie warteten nur so auf einen Augenblick zur eigenen Selbstverausgabung, wie sie von den Akteuren bis zur Schmerzgrenze praktiziert wird. Rudimentäres Theater — auch insofern, als La Fura dels Baus mittelalterliche Schaulust befriedigen und das in klassischen fünf Akten und einer Poetik, die Shakespeares Grausamkeit nicht nachsteht. Mit einer Handlung aber, die — verglichen mit den vorigen Arbeitern der Theaterkooperative — eher märchenhaft anmutet. Sechs Schauspieler hängen von einer Eisenbrücke über der Bühne in wassergefüllten Säcken. Nackt und triefend werden sie geboren (1.Akt): in einem Schlachthof, in einer Todesmaschine. Eine Gebärmaschine im Ameisenstaat, dirigiert von einer Königin, die in einer Draisine kontrollierend über den Köpfen wie in einer Gardinenschiene fährt. Die Frischgeborenen werden sie stürzen — denn, einfachste Psychoanalyse: „Wenn du nicht deine Mutter liebst, liebst du die Maschine.“

Der Sturz der Königin Mutter (2.Akt) ist so brutal, wie es dem Ruf der Fura dels Baus entspricht, ein Machotheater zu sein. Die Frau, nur mit einem Gürtel an der Schiene kopfunter hängend, wird um das Karree der Bühne gezogen, geschlagen, gepeitscht, mit (Theater-)Blut übergossen und halbnackt auf Gabeln in eine Feuerprozession getragen.

Die Söhne — und Töchter — befinden sich befriedigter dann (im 3.Akt) im Elysium einer onanistischen Überdeutlichkeit: Auf einem Wagen wird ein Springbrunnen hereingefahren, zwei Schwestern tanzen über den sprudelnden Quell, zwei Männer kämpfen auf der Brücke als Platzhirsche, woraus im 4.Akt hervorgeht: eine neue Königin findet ihren König — ein Märchen. Und alles wird gut: die Maschine, nicht mehr die Mutter, lenkt das Schicksal — in pneumatische Maschinen eingespannt, wird mechanisch kopuliert; zur Vermählung der Königinnenkinder kämpfen Gladiatoren in der Arena, in der das Publikum sich bewegt — in unmittelbar archaisch-erotischer Lust, in einem kriegerischen Spiel. Joyce Carol Oates nannte dies im Zusammenhang mit dem Boxkampf nicht „macho“, sondern: „Daß der Mensch seinen Mitmenschen vielleicht auch ohne den Umweg über die gewalttätigen Rituale des Wettkampfs lieben könne, scheitert daran, daß er die größte menschliche Leidenschaft außer acht läßt — die Faszination durch den Krieg, nicht durch die Liebe zum Frieden.“

Dieser Bühnenkrieg ist mehr als eine Verherrlichung: Erst die Artistik der Körper- und Naturbeherrschung, nicht die Gewalt, entfaltet Wirkung — 5.Akt: Wie Spinnen balancieren die Gladiatioren kopfunter über ein hauchdünnes Seil, mehr ein Kraftaufwand als nur ein Geschicklichkeitsspiel, eine monströse Jahrmarktsakrobatik, bei der die Körper des Publikums unwillkürlich und archaisch mitgehen — ein scheinbar grausames Ritual, in der Tat eine Show zum Mittanzen. Arnd Wesemann

Weitere Vorstellungen: 4.bis 6.Juli in Freiburg