Hirschjagd im Hühnerstall

■ Willy Russels „Hirsche und Hennen“ im Bochumer Schauspielhaus

Männer nennt man Hirsche, Frauen Hennen. Soweit decken sich die englischen und deutschen Bräuche. Einen Polterabend gibt es jenseits des Kanals jedoch nicht. Denn dort dürfen Braut und Bräutigam grad nicht, was sie in Deutschland sollen: Sich am Abend vor der Hochzeit sehen. Die Männer gehen mit dem Bräutigam in den Pub und die Frauen mit der Braut zum Tanz. „Stag night“ und „hen night“ nennt sich das: die Nacht der Hirsche und der Hennen. Und wehe, wenn in dieser Nacht der Hirsch die Henne trifft. Dann, so weiß das Volk, geht die Paarung der ungleichen Viecher von vornherein schief.

Genau dieses Malheur passiert in Willy Russels Theaterstück Hirsche und Hennen, das jetzt in Bochum seine deutsche Erstaufführung hatte. Entstanden ist es bereits 1978; gerade jetzt läuft eine Filmbearbeitung des Stoffes als Ein ganz normaler Hochzeitstag in unseren Kinos. Das etwa gleichzeitig entstandene Stück Klassenfeind von Nigel Williams, mit dem Hirsche und Hennen vieles gemeinsam hat, wurde in Deutschland nach der Erstaufführung an der Berliner Schaubühne 1981 zu einem Bühnenhit.

Der Schauplatz des schönen Hochzeitstages ist nicht die Kirche, nicht das Standesamt, sondern die Toilette. Zwei Toilettenräume eines Tanzlokals verunzieren die Bühne in den Bochumer Kammerspielen, links liegt das Männerklo. Rechts der Ort für Damen und in der Mitte ein Durchgang als neutrale Zone. In diesen Örtlichkeiten treffen sich nun, zunächst noch streng getrennt und ohne Wissen voneinander, die flotten Hirsche und die eitlen Hennen. Der Hirsch des Tages liegt und kriecht während des ganzen Stückes volltrunken am Boden herum. Seine zukünftige Flatterfrau zieht sich gedankenvoll und tatenarm in ihren Verschlag zurück. Zunächst werden liebevoll und mit bissigem Humor ihre jeweils vier Begleiter und Begleiterinnen uns vorgestellt. Bis zur Pause plätschert das Stück als sanfte Verspottung der Provinzjugend dahin.

Doch mit dem letzten Satz des ersten Aktes beginnt die Tragödie. Die Hirsche und die Hennen wissen nun, daß sie sich denselben Stall ausgesucht haben. Und schlimmer noch: ein fremder Hirsch kommt ins Revier. Der Gitarrist der Band, die gerade spielen soll, stellt sich als Ex- Freund der Braut heraus. Und nun zeigt sich, daß Lena, die Braut, die Heldin dieses Dramas ist. Einst wollte sie mit dem Musiker, diesem bunten Vogel unter lauter Durchschnittsgockeln, aus dem Vorstadtmief enfliehen, doch dann entschied sie sich für ihren Bräutigam und blieb. Jetzt erkennt sie wieder die Gefahr, in diesem Kaff zu ersticken. Nach heftigem Hin und Her, das auch vor den ehernen Grenzen der Entleerungsorte des anderen Geschlechts nicht haltmacht, entspringt Lena dem Gefängnis ihres provinziellen Hühnerstalls durch das Toilettenfenster auf dem Männerklo. Wohin, das weiß man nicht. Ins Freie jedenfalls.

Die Bochumer Aufführung hat den unschätzbaren Vorzug, Schauspieler im passenden Alter zu haben: fast durchweg Schauspielschüler aus Bochum. So ist fast jede Rolle treffend besetzt, nur der Darsteller des Eddy, als Fußballtrainer der Oberhirsch der Männerclique, muß sich aufplustern, um die Rolle auszufüllen. Die junge Magdalena Artelt spielt detailgetreu die leichte Fremdheit Lenas in dem Gegacker ihrer Freundinnen. Der Regie Marc Wernlis gelingt es, einen Stil zu finden, der für dieses kleine Gebrauchsstück paßt: leicht und pointensicher im ersten Akt, temporeich und dramatisch nach der Pause. Raffiniert steigert er die Spannung durch Parallelmontage von Szenen: Wie das erste Treffen zwischen Lena und ihrem Ex-Freund auf dem Gang gleichzeitig mit einer Szene im Damenklo arrangiert wird, ist ein Meisterstück an Timing und Ensemblespiel.

Wenn es in deutschen Theaterstücken um Befreiung aus der Enge der Provinz geht, dann geht es auch immer um Faschismus. Die Sprache holpert heftig, das Ende ist tragisch, und das Ganze ist für den Zuschauer harte Arbeit. Bei Willy Russell, der als Vorstadtkind aus Liverpool die Qualen des Aufstiegs als Außenseiter kennt und in seinen Stücken immer wieder thematisiert, geht es dagegen heiter und spannend zu. Die Erstaufführung in Bochum ist eine kleine Entdeckung: ein erstklassiges Übungsstück für junge Schauspieler. Gerhard Preußer

Willy Russel: Hirsche und Hennen , Schauspielhaus Bochum (Kammerspiele). Regie: Marc Wernli. Weitere Vorstellungen: 6. und 10. Juni.