: Verrat in den Abruzzen
Der Streikbruch der Italiener auf der sechsten Etappe des Giro d'Italia brachte vor allem Gianni Bugno und Claudio Chiappucci eine glänzende Ausgangsposition vor dem heutigen Zeitfahren ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) — Daß sich die Zeiten schwer geändert haben im Radsport, hat Laurent Fignon längst gemerkt. Waren die Fahrer in der Ära eines Eddy Merckx oder Bernard Hinault noch eine Art Hammelherde, die sich brav den Kommandos ihres Leithundes fügte, sind sie heute ein undisziplinierter Haufen, in dem jeder, notdürftig gebremst von der Mannschaftsdisziplin, macht, was er will. „Die Kerle würden sich einen Scheiß darum kümmern, wenn Hinault sie auffordern würde, langsamer zu fahren. Die würden angreifen“, meint der blondbezopfte Franzose Fignon, den die Italiener wegen seiner intellektuellen Rundbrille gern „il professorino“ nennen. Vorbei ist es mit den gemütlichen Flachetappen, die gelegentlich mehr dem Ausflug einer grünen Radlergruppe glichen. Es wird gefahren auf Teufel-komm- raus.
Daß allerdings die Solidarität unter den Radprofis so am Boden liegt, wie es sich auf der 6. Etappe des diesjährigen 74. Giro d'Italia erwies, hätte selbst Fignon nicht gedacht. Nachdem in einem unbeleuchteten Tunnel einige Fahrer schwer gestürzt waren, hatte das Feld einen kollektiven Bummelstreik ausgerufen, der ein abruptes Ende fand, als es hinauf in die Schneewüste der Abruzzen ging. Als die Italiener um Bugno, Chiappucci und Chioccioli plötzlich wie die Besengten in die Pedale traten, paßten nur die Spanier Marino Lejarreta und Inaki Gaston auf. Der vertrauensselige Fignon fiel ebenso herein wie Pedro Delgado und Greg LeMond.
Delgado verlor eine halbe Minute, Fignon 1:10 Minuten und der amerikanische Tour-de-France-Gewinner der letzten beiden Jahre, der diesmal versprochen hatte, den Giro nach eigenen Worten nicht wie in der Vergangenheit als willkommenes Training für die Tour zu benutzen, rollte gar 2:40 Minuten hinterher. Zwei Tage später büßte er als Dreingabe noch vierzig Sekunden wegen eines Reifendefekts ein und darf sich fürderhin doch wieder als Tourist betrachten. Während Delgado den streikbrecherischen Übeltätern im Ziel mit Macht an den Kragen wollte und vor allem Chiappucci für die unsolidarische Aktion verantwortlich machte, erklärte der Giro-Sieger des vergangenen Jahres, Gianni Bugno, zwar, daß der Streik gerechtfertigt gewesen sei, zum italienischen Schlußspurt meinte er jedoch nur lapidar: „Dazu sage ich gar nichts.“
Der schnöde Verrat in den Abruzzen sorgte dafür, daß sich die beiden italienischen Favoriten, Gianni Bugno und Claudio Chiappucci, vor dem heutigen 43-Kilometer-Zeitfahren in Langhirano eine recht günstige Ausgangsposition erobert haben. Mit rund einer Minute Rückstand liegen sie hinter dem führenden Franco Chioccioli, dem kleinen Coppi („Coppino“), wie er wegen seiner (äußerlichen) Ähnlichkeit mit Italiens größtem Radfahrer aller Zeiten genannt wird. „Ich bleibe dabei, daß mein Giro in Langhirano beginnt“, hatte Bugno stets betont, doch auch Chiappucci, der beim Zeitfahren die letztjährige Tour verspielte, verkündete, daß er sich gerade in dieser Disziplin mächtig verbessert habe. Sein Sieg beim Klassiker Mailand-San Remo hat ihm zusätzliches Selbstvertrauen gegeben, und auch seine Stellung im Fahrerfeld hat sich verbessert. „Ich sage nicht, daß ich mehr Freunde habe, aber es gibt weniger Leute, die Krieg gegen mich führen, wie damals auf den Straßen der Tour de France.“
„Ich glaube, daß Chiappucci im Vergleich zu Fahrern wie Lejarreta und Chioccioli überschätzt wird“, konnte sich Bugno einen Seitenhieb auf den ungeliebten Rivalen nicht verkneifen. Und in der Tat ist der 32jährige Chioccioli keineswegs gewillt, kampflos die Segel zu streichen. „Einer wie er verdient es, als Favorit des Giro angesehen zu werden“, urteilte Greg LeMond schon nach wenigen Etappen, und Coppino selbst hofft: „Vielleicht habe ich endlich die nötige Reife erlangt.“ Die Alpen, die in der nächsten Woche auf dem Plan dieses 3.690 Kilometer langen Giro stehen, der nach Meinung Delgados diesmal „viel schwerer ist als die Prüfung in Frankreich“, werden die endgültige Antwort auf Chiocciolis Frage bringen.
Keinesfalls abgeschrieben sind Delgado und Fignon, der Sieger von 1989, aber Sorgen bereitet den Italienern vor allem einer: Marino Lejarreta, 34 Jahre alt, Dritter der Spanien-Rundfahrt und mit geringfügigem Rückstand Zweiter im Gesamtklassement. Gianni Bugno schäumte förmlich, nachdem der Spanier die fünfte Etappe in großem Stil für sich entschieden hatte: „Es macht mich zornig, daran zu denken, einem solchen Mann eine Minute geschenkt zu haben.“ Wie immer bestreitet Lejarreta alle drei großen Rundfahrten und ist mittlerweile ein Fahrer, der praktisch keine Schwächen hat. „Dieser Giro ist schwierig, hart und selektiv“, hatte Chiappucci gesagt. Ein Fall für Lejarreta?
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