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KURZESSAYWider die „konkrete Utopie“

■ Eine marktgängige Metapher für das Größte Anzunehmende Gute

Lebe wild und gefährlich — der Titel von Jutta Ditfurths vierhundertseitigem Bekenntnis zur „konkreten Utopie“ fiel nicht nur aus Marketing-Gründen mit dem Austritt ihrer Fundi-Gruppe aus der grünen Partei zusammen. Das Timing enthält einen politischen Kern, der vor einigen Tagen auf mehreren Kongressen linker Selbstfindung bestätigt wurde: das Festhalten am utopischen Konzept einer radikalen Linken, die auch nach dem weltweiten Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus“ die grundlegende Umwälzung des kapitalistischen Systems anstrebt. Daß das renommierte Umweltmagazin 'Natur‘ in seiner Mai-Ausgabe sieben Druckseiten für Jutta Ditfurths „Widerworte“ gegen den Lauf der Welt — „Utopien braucht der Mensch“ — opferte, zeigt die ungebrochene Attraktivität des Begriffs. Auch jene, die nur ein bißchen wild, vor allem aber intellektuell gemütlich leben wollen, träumen von einer ganz anderen, besseren Welt, um so mehr, als die gegenwärtige zielstrebig ihrer Katastrophe zusteuert.

Utopie als geistige Inneneinrichtung

Gerne wird dabei „Utopie“ mit der „Idee“ — des Sozialismus, der Anarchie oder der „Basisdemokratie“ — verwechselt, die sich stets wie der ewig junge Phönix aus der Asche der gescheiterten Praxis in die frischen Lüfte eines neuen Aufbruchs erhebt. Auf wunderbare Weise wird da „Utopie“ zum alternativen „Schöner-Wohnen-Syndrom“, einem Gefühl prinzipieller Unangreifbarkeit der geistig-moralischen Inneneinrichtung, mag die Welt draußen noch so heillos und zerstritten sein. Spießer aller Zeiten und Couleur waren stets an ihrer außerordentlichen Immunität gegen Zudringlichkeiten zu erkennen, wie sie einen (selbst-)zweiflerischen Geist zu befallen pflegen.

Heute drapieren sich die „ökologischen Linken“ als systemresistente Zukunftskämpfer, denen weder historische Quellentexte, neuere Gesellschaftstheorien noch reale geschichtliche Erfahrungen irgend etwas anhaben können. Weil sie meinen, ohne Utopie nicht leben zu können, greifen sie, wie Jutta Ditfurth, kurz vor Beginn des 21. Jahrhunderts in die Kiste des 19., um sich daraus wie im Sommerschlußverkauf zu bedienen. Ob Marx oder Engels, Rosa Luxemburg oder Ernst Bloch, die Pariser Commune oder Castros Kuba — als sei die revolutionäre Geschichte der letzten 150 Jahre in Status nascendi wie eine historische Puppenstube wieder zusammenzubasteln, wird etwa der Pariser Aufstand von 1871 in den leuchtendsten Farben einer ökosozialistischen Basisidylle des Jahres 2010 gemalt. Der utopische Reader's Digest, in dem es „keine Kapitaleigner mehr gibt, die den Mehrwert einsacken“, wo die Produzenten entscheiden, was und wie produziert wird, alle Menschen nicht formal, sondern wirklich gleich“ sind und ihre „Angelegenheiten selbst regeln“ — selbstverständlich in einer Rätedemokratie —, ist eine einzige, allerdings unfreiwillige Farce jener linken Borniertheit, der selbst der unvoreingenommene Blick vor die Haustür abhanden gekommen ist. Zwei Jahrhunderte nach den Frühsozialisten ist die utopische Emphase vollends Ausdruck einer teleologischen Projektion, in der politische Blindheit sich mit dem Mythos vom großen Verrat zur Vorneverteidigung im Kampf um die linke Rechtgläubigkeit zusammengeschlossen hat.

Die wüsten Beschimpfungen, mit denen die Vorsitzende der „Ökologischen Linken“ ihre ehemalige Parteifreundin Antje Vollmer als „Frau Antje, die Maggie Thatcher der Grünen“, denunzierte, die Tiraden gegen die „rechten Mittelstandsbürger“, die sich dem kapitalistischen Ausbeutersystem mit Haut und Haaren verkauft haben, sind mehr als das übliche Rückzugsgetöse auf dem Weg von der Partei zur Sekte. Je strahlender die Utopie einer vollends befreiten Gesellschaft, desto triumphaler die Verdammung der „angepaßten, intriganten Kleinbürger“; je verwerflicher die dunklen Machenschaften jener, „die den Status quo zementieren“, desto unbestechlicher der utopische Weitblick einer unbeirrbaren Minderheit.

Sinistrer „Furor teutonicus“

Wie ist es möglich, daß dieser linke Furor teutonicus, in dessen „Grundanschauungen es keinen Bruch gibt“ (Ditfurth), nicht wenigstens die Probleme in ihrer Komplexität zur Kenntnis nimmt, deren Aufhebung er doch für die Zukunft verspricht?

Schon ein flüchtiger Blick auf die Welt — Stand: Ende Mai 1991 — zeigt, daß selbst der reine Gedanke an die Überwindung auch nur der drückendsten Not und der himmelschreiendsten Verbrechen die Qualität eines wundersamen Tagtraums annehmen muß, um sich gegen die täglichen Alpträume wenigstens stundenweise behaupten zu können. Trifft das im Blick auf die Dritte Welt seit ihrer Kolonisierung durch die europäischen Mächte und in ständig größerem Umfang zu, so ist die katastrophale Lage in der Sowjetunion das gräßlichste Beispiel einer konsequenten Entwicklung von der Utopie zur Wissenschaft, die das gesellschaftliche Leben wie das individuelle Glück systematisch, gründlich und dauerhaft ruiniert hat. Auch nach dem Zusammenbruch des totalitären Systems sorgt seine chaotische Hinterlassenschaft für die verheerende Kontinuität von Herrschaft und Fremdbestimmung. Die einstige Verheißung der Proust lesenden Fabrikarbeiterin, die, allseitig entwickelt, auch über den kollektiv produzierten Mehrwert mitverfügt, ist dem dumpfen Bild der Warteschlangen vor leeren Läden und überfüllten westlichen Botschaften gewichen. Selbst wenn man für den Zustand der gesamten Welt ausschließlich das internationale Kapital, seine politischen Agenten und korrupte Verräter des Volkes verantwortlich machen wollte, müßte sich die schlechte Realität nicht gegen die — im übrigen alles andere als: „konkrete“ — Utopie rechtfertigen, sondern vor den elementaren Rechten und Bedürfnissen der Menschen.

Das wahre Ganze vs. konkrete Vernunft

Die scheinbar klare Symmetrie zwischen Utopie und Realität, Gut und Böse, ist die Lebenslüge einer politischen Heilslehre, die glaubt, aus der Denunziation des schlechten Ganzen ergebe sich schon das wahre Ganze, eben das ganz Andere, worauf nur noch gemeinsam zu überlegen sei, „mit wem, in welchen Bündnissen und mit welchen Kampfmethoden wir unserer konkreten Utopie eines wilden, freien, solidarischen Lebens näherkommen“ (Ditfurth). Ein solch metaphysisch-pfadfinderhaftes Verständnis von Utopie als Zielbestimmung, Konditionsübung und Wegzehrung setzt sich unbeschwert und um so kämpferischer über die Erfahrung des 20. Jahrhunderts hinweg: es gibt weder einen Plan oder eine Gesetzmäßigkeit der Geschichte noch ein historisches Subjekt, keinen Befreiungsauftrag des Proletariats noch der subversiven Intelligenz oder gar der „Volksmassen“ überhaupt. Marx hatte da so unrecht wie Blochs „Noch nicht“ und Herbert Marcuses „Ja, aber“, als er 1986 prophezeite, den „technologischen Kräften des fortgeschrittenen Kapitalismus“ wohnten „utopische Möglichkeiten inne“, mit denen „Armut und Knappheit in durchaus absehbarer Zukunft zu beenden“ seien. Die entscheidende Frage, ob und wie sie zu realisieren seien, blieb stets der „konkreten Utopie“ selbst überlassen.

Heute wissen wir: Es gibt Kämpfe und Konflikte, Wünsche, Träume und Ideen, und es gibt eine Wirklichkeit, die sie hervorbringt. Wer diese beiden Sphären virtuell in eins setzt, verfehlt schließlich beide. Doch zu verlockend ist für viele das „Pathos des Gordischen Knotens“ (Fest), der Glaube an den „Hauptwiderspruch“ und seine Lösung, zu unerträglich die Vorstellung, eine endgültige Befreiung der Menschheit sei womöglich doch nicht „im Plan der Schöpfung enthalten“ (Freud), zu stark das Verlangen, „utopisches Denken“ als Generalimpfung gegen bohrende Zweifel zu benutzen. Dabei könnte gerade die instrumentell-technokratische Vernunft der „Zukunftsplaner“ und „Prognostiker“ die strategische Erkenntnis bringen, daß angesichts einer extrem erweiterten Rationalisierung des gesamten Lebens eine zweite, umfassende Säkularisierung politischen Denkens und Handelns vonnöten ist: die Einsicht in die Notwendigkeit, ohne Utopien zu leben. Das Bemühen um die Durchsetzung der konkreten Vernunft wird alle Kräfte in Anspruch nehmen. Reinhard Mohr

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