Provokationen der Roten Armee

Das Parlamentsgebäude in Vilnius wurde mehrere Stunden von sowjetischen Soldaten kontrolliert/ Generalprokurator legt Untersuchungsbericht über Januareinsatz der Sondertruppen in Litauen vor  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Wen wundert's eigentlich? Der Untersuchungsbericht, den der sowjetische Generalstaatsanwalt Nikolai Trubin soeben dem Obersten Sowjet der UdSSR präsentierte, sagt es klipp und klar: Die Armee traf keine Schuld, als am 13. Januar diesen Jahres beim Versuch der Spezialeinheiten des sowjetischen Innenministeriums, den Fernsehturm der litauischen Hauptstadt Vilnius zu besetzen, 13 Menschen ums Leben kamen und einige Hundert schwer verletzt wurden. Der Bericht begnügt sich aber nicht mit der Exkulpation der Militärs. Das wäre schon perfide genug. Vielmehr setzt er noch eins drauf. Allein die „extremistische“ Regierung Litauens sei wegen ihrer „verfassungswidrigen Aktivitäten“ für die Opfer verantwortlich. Und die erzreaktionäre Zeitung 'Sowjetskaja Rossija‘, die der „Untersuchung“ in ihrer gestrigen Ausgabe immerhin eine ganze Seite widmete, verniedlicht das Grauen noch: Aus dem Massaker wurde ein „Handgemenge am Fernsehturm“. Das, was der Generalprokurator zu einer Beweisführung aufbläht, ist über weite Strecken nichts anderes als eine erneute politische Rechtfertigung des Vorgehens. Sogar das ominöse „Komitee zur nationalen Rettung“, das einen Hilferuf an die sowjetischen Truppen in Litauen richtete, ohne über irgendeine verfassungsrechtliche Legitimation zu verfügen, wird noch einmal als eine um die Zukunft Litauens bangende ernstzunehmende Kraft dargestellt. „Die Führung der Truppen des Innenministeriums und der Garnison in Vilnius haben geeignete Maßnahmen ergriffen, um Gesetz und Ordnung zu bewahren, einen Massenaufstand zu verhindern und militante Kräfte zu entwaffnen...“, liest man dort.

Aus dem Umstand, daß sich an der Fassade des Fernsehturms keine Einschußstellen finden ließen, leitet die Kommission zwei vermeintlich haltbare Schlüsse ab, die sie sofort in Gegenbeweise ummünzt. Die Militärs haben danach nur in die Luft geschossen, während die Opfer, die mit dem Rücken zum Fernsehturm standen, von ihren eigenen Leuten rücklings ermordet worden sein mußten. Die Glaubwürdigkeit der Zeugen, unter ihnen auch ausländische Korrespondenten, wird ebenfalls zunichte gemacht. Sie hatten von Leuchtspurmunition berichtet. Die sei an die Einsatztruppe aber gar nicht verteilt worden. Insgesamt hätten sechs Soldaten 138 Schuß in die Luft abgefeuert. Abenteuerlich und infam klingt die Begründung im Falle der von den Panzern überrollten Opfer. Ohne die Zeugen namentlich zu nennen, wird behauptet, sie seien von der Gegenseite mit PKWs überfahren und anschließend vor die Panzer gelegt worden. Als Futter für die Fotografen sozusagen. Blutspuren an den Panzerketten suchten die Investigatoren nämlich vergeblich. Die Kommission scheint sich über die Dürftigkeit ihrer Ermittlungen selbst im klaren zu sein. Ansonsten hätte sie wohl darauf verzichtet, der litauischen Staatsanwaltschaft die Verantwortlichkeit zuzuschieben.

Der Sprecher des litauischen Parlaments, Audrius Azubalis, wies die Ergebnisse empört zurück: „Alles absolute Lügen. Es ist keine Information, sondern Desinformation und beweist, daß die Führungsspitze, die die Entscheidungen zur Gewaltanwendung getroffen hat, wieder einmal ungestraft davonkommt.“ Zeitgleich mit der Veröffentlichung des Berichtes haben in Vilnius erneut Einheiten der berüchtigten Omon am Montag abend vor zentralen Einrichtungen Posten bezogen und deren Besucher kontrolliert. Das sowjetische Innenministerium will wie im Januar von dieser Aktion nichts gewußt haben. Armeekreise in Litauen fuhren zudem das gleiche Argument auf, mit dem im Januar Sondereinheiten ins Baltikum transportiert wurden. Man sei auf der Suche nach Wehrdienstverweigerern und Deserteuren.

Gorbatschow selbst hatte die Untersuchung angeordnet, um eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zum Westen abzufedern. Nicht zuletzt wegen der Schießereien in Vilnius platzte das für Februar angesetzte Gipfeltreffen mit US-Präsident Bush. Über die Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt dürfte Gorbatschow nicht glücklich sein. Heute wird er in Oslo erwartet, um seinen Friedensnobelpreis entgegenzunehmen. Außerdem ringt er um die Teilnahme auf dem Londoner Treffen der größten Industrienationen. Milliardenkredite möchte er dort locker machen. Mit diesem Bericht in der Aktentasche steigen seine Chancen nicht. Daher ist es nicht von der Hand zu weisen, daß konservative Kräfte und Militärs die Terminierung lanciert haben und im Baltikum erneut für Unruhe sorgen, um dem Präsidenten eins auszuwischen. Denn der hatte sich in den vergangenen Wochen gegenüber den Republiken und seinem Widersacher Jelzin auffallend kompromißbereit gezeigt. In den Augen der orthodoxen Kräfte gleicht dies einem Verrat.