: In Albanien wird weiter gestreikt
Nach stundenlanger Parlamentsdebatte einigen sich Kommunisten und Opposition auf die Bildung einer Koalitionsregierung/ Kommunistische Partei auch zur Einführung des Verhältniswahlrechtes bereit/ Neuwahlen voraussichtlich im Frühjahr 1992 ■ Aus Belgrad Roland Hofwiler
Die albanischen Arbeiter verhalten sich abwartend. Auch gestern nahmen sie die Arbeit noch nicht auf, obwohl der unabhängige Gewerkschaftsverband, der am 16. Mai rund 350.000 Beschäftigte zu einem Generalstreik aufgerufen hatte, nun alle Streikenden bat, „zum Wohle des Vaterlandes“ die Produktion wiederaufzunehmen. Dieser Appell wurde gestern stündlich im Radio verlesen, wie auch in Live-Sendungen dem endgültigen Rücktritt der kommunistischen Regierung unter Fatos Nano viel Beachtung eingeräumt wurde. Sie trat in der Nacht auf Dienstag ab. Während einer Parlamentssitzung, die bis in die frühen Morgenstunden dauerte, hatte der Regierungschef angekündigt, daß er und das gesamte Kabinett bereit seien, für eine Regierung Platz zu machen, die sich aus parteiungebundenen Persönlichkeiten zusammensetze. Mögliche Mitglieder des Kabinetts, die heute noch einer politischen Partei angehörten, sollten für die Dauer ihrer Amtszeit auf die Mitgliedschaft verzichten. Teil der Vereinbarungen ist es weiterhin, daß der neue Ministerpräsident von den Kommunisten vorgeschlagen wird. Gemeinsam werde man sich außerdem auf die übrigen Mitgleider sowie das politische Programm der neuen Regierung einigen. Im Gegenzug müßten allerdings die Streiks beendet werden. Mit den Streikenden werde über ihre Forderungen verhandelt.
Bekanntlich hatten sich Staatspräsident Ramiz Alia, Fatos Nano und der Oppositionsführer Sali Berisha bereits am Wochenende darauf verständigt, daß bis zur Abhaltung von Neuwahlen, die voraussichtlich im Mai oder Juni 1992 stattfinden sollen, eine sogenannte Konzentrationsregierung unter Beteiligung aller politischen Kräfte die Regierungsgeschäfte übernehmen müsse. Gleichzeitig einigte man sich auf einen Maßnahmenkatalog, der für albanische Verhältnisse geradezu „revolutionär“ wirkt: Kein Mitglied der neuen Regierung dürfe Mitglied der vor allem in ländlichen Gebieten nahezu absolutistisch herrschenden KP sein, die jetzigen Diktatoren der staatlichen Betriebe müssen durch unabhängige ausgetauscht werden, das Mitspracherecht der freien Gewerkschaften soll in allen Bereichen der Produktion festgelegt werden. Das Streikrecht müsse in Zukunft nicht nur eine rein ökonomische Waffe der Arbeiter sein, sondern auch zu politischen Zwecken eingesetzt werden können. Schließlich konnte die Opposition den Kommunisten gar die Zusicherung abgewinnen, das augenblickliche Mehrheitswahlrecht in ein Verhältniswahlrecht umzuändern. Damit müßte das Ende der KP vorgezeichnet sein, wußte am Montag das ZK-Organ 'Zeri i popullit‘ zu sinnieren. Denn längst ist es ein offenes Geheimnis, daß die KP bei den ersten Mehrparteienwahlen in diesem Frühjahr mit nur 55 Prozent der Stimmen fast 80 Prozent der Parlamentssitze gewinnen konnte — eine absolute Mehrheit, die bisher eine demokratische Parlamentstätigkeit lähmte. Wie eh und je wurden denn auch Beschlüsse einstimmig gefaßt — und änderte sich nichts am Alltagsleben.
Vor diesem Hintergrund kam es dann auch vor drei Wochen zum landesweiten Generalstreik, zu erneuten Kundgebungen und Protesten. Ob dies nun endlich der Vergangenheit angehöre, fragt in ihrer neuesten Ausgabe das kleine Oppositionsblatt 'Rilindija Demokratike‘. Der Autor stellt an den Oppositionsführer Sali Berisha die Frage, ob sich der Tauschhandel, Regierungsbeteiligung der Opposition gegen Neuwahlen und andere demokratische Neuerungen, letztendlich für Albanien bezahlt mache. Nahezu pessimistisch glaubt der Autor, selbst eine parteienübergreifende „Front der nationalen Erneuerung“ werde das Land nicht aus seiner selbstverschuldeten Isolation und Rückständigkeit führen. Welche Rezepte dann aber gefragt wären, darauf gibt 'Rilindija Demokratike‘ keine Antwort. Die unzähligen KP-Blätter, die letztendlich nach wie vor das Pressemonopol stellen, appellieren ihrerseits an das Ausland, Albanien „vor Bürgerkrieg und Hungersnot zu bewahren“ (Zeri i populitt) und unverzüglich Hilfssendungen, Kredite und eine Aufnahme in internationale Währungs- und Politorganisationen zu gewähren. Ehemalige Dissidenten kommen plötzlich in den kommunistischen Medien ausführlich zu Wort. Ihre Forderungen an die internationale Staatengemeinschaft: Alles müße getan werden, damit das „historische Unrecht“ an dem albanischen Volk gesühnt werde. Albanien und das südjugoslawische „Kosovo müßten das Recht zugestanden bekommen, sich als staatliche Einheit zu verbinden.“ Erst dann sei mit der „nationalen Einheit“ eine moderne Entwicklung Albaniens gewährleistet. Die Welt müsse mit „tatkräftiger Hilfe“ nicht zögern, denn im Kosovo herrsche menschenverachtender Terror, während dem Mutterland bald eine Hungersnot drohe.
Dramatische Worte, mit denen seit Tagen sich auch Staatspräsident Ramiz Alia abends über das staatliche Fernsehen an die Öffentlichkeit wendet. Unablässig warnt er vor „Chaos, Instabilität und Bürgerkrieg“, der nur zu schlichten sei, „wenn alle Albaner als wahre Patrioten eine neue Heimat aufbauen“. Worte, die die Menschen schon zu lange hören und auf die sie nicht mehr vertrauen, wie es scheint. Und so ging zumindest gestern, trotz fieberhafter Appelle, dem Rücktritt der Regierung, der Ankündigung schneller Einleitung weiterer Reformen, landesweit zumindest ein Bummelstreik weiter. Nur eine Gefahr ist gebannt: über 800 Kumpel, die seit Tagen in mehreren Bergwerken unter Tage in den Hungerstreik getreten waren, brachen ihren Protest ab. Doch sie kündigten an, sie würden sich nicht an die Abmachung der unabhängigen Gewerkschaften halten, vorerst auf Streik zu verzichten, um eine „Hungersnot“ abzuwenden. Unbestätigten Berichten zufolge ist auch nach dem „historischen Kompromiß“ die Lage im nordalbanischen Shkodra zum Zerreißen gespannt. Jugendliche sollen dort erneut auf die Straße gezogen sein und gerufen haben: „Wir trauen euch allen nicht — Brot und Freiheit oder Tod den Roten.“
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