Die Gräben des Unverständnisses

Die sind janz anders“ — Einheitsfrust in Berlin/ „Teilen heißt hier Auseinanderdividieren“  ■ Von Florentine Friedmann

Berlin. „Wir sind ein Volk“, sagt der Ossi. „Genau — wir auch“, antwortet der Wessi. Dieser Witz aus der schier unerschöpflichen Komik-Kiste zum Experiment deutsche Einheit ist in der Hauptstadt Berlin nüchterner Alltag. Wo Ost und West nach 30 Jahren Trennung ungebremst aufeinanderprallen und sich die Bürger aus dem Prozeß der Vereinigung nicht so heraushalten können wie der Rest der Westrepublik, scheint sieben Monate nach den Jubelfeiern am Brandenburger Tor die steinerne Grenze abgelöst von der gedachten.

Die alte „Inselmentalität“ ist auf beiden Seiten wieder da: „Besser, man hört und sieht vom anderen nichts.“ Lustlosigkeit ob des einig Vaterlands hat viele erfaßt. „Wenn ich durch den (ehemaligen) Grenzübergang durch bin, dann atme ich auf.“ Dieser Satz einer 17jährigen Ostberlinerin könnte auch von einem Jugendlichen aus dem Westen kommen. Denn gerade die Jugendszenen zwischen Neukölln und Pankow trennen tiefe Gräben des Unverständnisses, die fast genau entlang der Mauerlinie verlaufen.

Dabei war noch im Sommer letzten Jahres das Interesse an- und die Neugier aufeinander groß. Doch im Herbst, als die Euphorie der Realität zu weichen begann, „änderte sich auch das gleichrangige Verhältnis: „Der Osten wurde von den Westberlinern zunehmend als langweilig, eintönig und öde empfunden“, schreibt der Westberliner Pädagoge Michael Kruse in seiner Dissertation „Kultur, Medien, Szene — Jugend in Berlin“. Bei den Ostberlinern begann das Klagen, daß alles nicht so schnell geht, wie sie es erwartet hatten. Das erzeugte bei den Westberlinern das Gefühl, belehren zu müssen. Und trotzdem ging fast nichts voran. „Mittlerweile hat sich daraus im Westen eine unheimliche Feindseligkeit gegenüber den Ostleuten entwickelt“, beschreibt Kruse das Phänomen, daß freundschaftliche Kontakte abgebrochen wurden und sich jeder in seine Stadthälfte zurückzog.

„Ost-Berlin ist für mich wieder ein weißer Fleck“, sagt eine Abiturientin aus Kreuzberg. Wie viele ihrer Altersgenossen ist sie voll Verachtung für die „Zonis“, die brav und angepaßt seien und die Rituale der Westcliquen einfach nicht begreifen wollten.

Nicht weniger geringschätzig urteilt eine junge Kellnerin vom Prenzlauer Berg über die Westtypen: „Das sind richtige Ausstattungsaffen. Immerzu rennen sie in Kaufhäuser, um zu sehen, welche Jeans gerade angesagt sind.“ Sie will bei dem „Lieblingsspiel der Westler“ — mehr zu scheinen als zu sein — nicht mitmachen, und „deshalb können die mir gestohlen bleiben“. „Eine verdeckte Aggressivität existiert zweifellos“, meint Kruse. Eine offene bisweilen auch — wie kürzlich die Sprühschrift in einer Fußgängerunterführung am Alexanderplatz zeigte: „Vom Ossi zum Assi (Asozialen) ist nicht weit.“ „Es ist wie Apartheid“, sagte ein US- Reporter, als er seinen weit entfernten Hörern zu erklären versuchte, warum nicht so recht zusammenwachsen wollte, was doch angeblich zusammengehört. Sein — überzogener — Eindruck mag auch dadurch geschürt worden sein, daß die Menschen in Ostdeutschland vorläufig nur 60 bis 70 Prozent der Bezüge ihrer Westkollegen erhalten, auch wenn sie in einem Büro sitzen und die gleiche Arbeit verrichten. Abgesehen von dieser Realität der sozialen Marktwirtschaft, die trotz der noch niedrigen Mieten im Ostteil angesichts der gestiegenen Lebenshaltungskosten nur den wenigsten „Beigetretenen“ einzuleuchten vermag, werden die „Billiglohnkräfte“ von den Westlern häufig auch noch als „Jobkiller“ beschimpft.

„Wenn ich es mir irgendwie leisten könnte, würde ich kündigen“, meint eine junge Friseuse aus Marzahn nach dreimonatiger Arbeitserfahrung bei einem „Haarkünstler“ am Kurfürstendamm. Sie fühle sich den spitzen Bemerkungen und abfälligen Blicken der anderen hilflos ausgeliefert. Ihre Sorgen — der Mann ist in der Warteschleife, die Kindertagesstätte, wo ihre Tochter tagsüber betreut wurde, ist geschlossen — stießen auf „unglaubliche Gleichgültigkeit“.

Westkollegen begründen ihre Ablehnung damit, daß „die Neuen“ eine völlig andere — und in ihren Augen falsche — Einstellung zur Arbeit hätten. Sie seien langsam, faul und unkreativ, denunziantisch und devot, verklemmt und verbohrt, heißt es oft, „halt janz anders“.

Ost- und Westberliner sind sich wechselseitig fremd, und es gibt auf beiden Seiten nicht wenige, die sich — angeblich nostalgisch — die Mauer zurückwünschen. Die Wessis tun es teils auch offen kund mit T-Shirts, auf denen gefordert wird: „Ick will meene Mauer wieder ham.“ Sie nennen die „von drüben“ heimlich „Neger“ oder „Polen“ und meinen das als Schimpfwort. Oder sie fürchten sich vor „Ossifizierung“ und gebärden sich bei beruflicher Versetzung in den Ostteil, als würden sie in ein Lepragebiet verbannt. „Wir haben doch nicht demonstriert“, sagte ein Westberliner in einer Fernsehumfrage, und es klang wie: „Wir wollten doch nicht die Vereinigung.“

Als Reaktion verklären und romantisieren viele Ostler die Ex- DDR. Nachdem die linke Ost-West- Zeitung 'Freitag‘ die Leseraktion „Mir geht es gut. Dir auch?“ startete, schrieben viele: „Früher war es besser“ oder sogar „menschenfreundlicher“. Eine Ostberlinerin fand: „Unsere ,Tristesse‘ war für Leute, die nichts gegen eine Konfrontation mit sich selbst hatten, eine Quelle von Ideen und Konzepten... Ich glaube, daß der Geist trainierter und gesünder war in dieser Zeit. Und man konnte sich mit Ironie zur Wehr setzen. Diese erbarmungslos fröhlichen Coca-Cola-Typen aus der Kinowerbung greifen an einer Stelle an, wo man mit Verstand und Ironie nichts ausrichten kann.“

Der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière hatte im Herbst 1990 als erster zum „Teilen“ gemahnt. In Berlin, so resigniert ein „abgewickelter“ Dozent der Humboldt-Universität, scheint Teilen oft Auseinanderdividieren zu bedeuten. dpa