Den Stahlrohrstuhl kein zweites Mal erfinden

■ Nachahmung des Bauhauses der 20er Jahre wäre Nostalgie, Stilsucht und somit das ganze Gegenteil der Gropius-Ideen

Dessau. Glasfassade, Stahlrohrstuhl, Bauhausstil — an diese und ähnliche Begriffe dachte, wer in der DDR das Dessauer Bauhaus besuchte. Nachdem es in stalinistischen Zeiten in kein DDR-Kulturkonzept paßte, da es nicht auf Ideen der klassischen Humanisten beruhte, war es 1977 als Ausstellungszentrum wiedereröffnet worden, ab 1986 Weiterbildungsstätte für Architekten und Designer. Die Idee des Bauhaus- Gründers Walter Gropius, „der zeitgemäßen Entwicklung der Behausung vom einfachen Hausgerät bis zur fertigen Wohnung zu dienen“, war von den DDR-Bauhäuslern aufgegriffen worden — experimentiert, geforscht und gestaltet wurde jedoch eher für die Schublade.

Inzwischen haben sich die Zeiten für das 1925/26 geschaffene Bauhaus geändert. „Wir haben fachliche und politische Akzeptanz bei der Bundesregierung und namhaften Wissenschaftlern und Architekten in aller Welt gefunden“, so Bauhaus- Direktor Rolf Kuhn. Seit Februar 1991 wird das Haus zur Hälfte aus Mitteln des Bundes, zu 45 Prozent aus dem Landeshaushalt und zu fünf Prozent mit Geldern der Stadt Dessau finanziert. „Neben dem Potsdamer Schloß Sanssouci und den Kulturstätten Weimar sind wir die einzigen in Ostdeutschland, denen das so gelungen ist“, berichtet der Soziologe und Stadtplaner.

Mit gestärktem finanziellem Rückgrat wollen die Bauhäusler nun ihr neues inhaltliches Konzept durchsetzen. „Auf keinen Fall soll in unserem Haus der Stahlrohrstuhl ein zweites Mal erfunden werden. Die Nachahmung des Bauhauses der 20er Jahre wäre wohl eher Nostalgie, Stilsucht und somit das ganze Gegenteil der Gropius-Ideen“, konstatiert Kuhn. In den 90er Jahren muß es nach seiner Auffassung um das Zusammenwirken von Natur, Kunst und Technik gehen. Seit dem II. Internationalen Walter-Gropius-Seminar im November 1989 verknüpfen zumindest Insider das Dessauer Bauhaus mit dem Begriff „Industrielles Gartenreich“. Mit drei hervorstechenden experimentellen Vorhaben wollen die Wissenschaftler und Studenten am Bauhaus ihre Vorstellung von der Symbiose von Industrie und Landschaft untermauern. Rund um das 1915 entstandene Kraftwerk Zschornewitz — dem seinerzeit weltgrößten — soll die sanierungsbedürftige gartenstadtähnliche Werkssiedlung restauriert werden. Den 1850 gebauten und jetzt brachliegenden Wallwitzhafen stellt man sich als Gewerbe-, Kultur- und Freizeitbereich vor. Das dritte Projekt, das in der Gründerzeit gebaute Wohngebiet Dessau-Nord, ersteht ab Juli 1991 von Studenten aus aller Welt in der ersten Bauhausklasse — zumindest im Modell — neu. So versucht das Dessauer Bauhaus wie seinerzeit Walter Gropius durch systematische Forschung rings um Dessau für die fünf neuen Länder zu zeigen, wie mit Bauen Lebensvorgänge gestaltet werden können. Nicht um die Belebung eines formalen „Bauhausstils“ in Gestalt des Stahlrohrstuhls geht es den Mitarbeitern und Lernenden am Bauhaus, sondern um die Suche nach Mitteln, um aus dem schier unversöhnlichen Widerspruch Industrie und Natur ein Paar zu machen. Dirk Furchert/ adn