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»Es wird ein heißer Herbst«

■ Unmut sozialer Projekte/ Interview mit Karin Lücker vom »Plenum gegen Kürzungen«

Karin Lücker ist Mitarbeiterin des Dachverbandes der Berliner Kinder- und Schülerläden und aktives Mitglied im »Plenum gegen Kürzungen«. Die taz befragte sie nach ihrer Einstellung zur Vorgehensweise des Senats.

taz: Der Nachtragshaushalt wird in diesen Tagen dem Parlament vorgelegt. Was sind Ihre Informationen über die zu erwartenden Kürzungen?

Karin Lücker: Uns liegt überhaupt kein konkreter Plan vor, sondern nur die Gesamtsummen der einzelnen Senatsverwaltungen. Es ist bisher einzigartig in der Geschichte Berlins, daß ein Haushaltsplan verabschiedet werden soll, ohne daß die Parlamentarier konkret wissen, was sie verabschieden. Auf unsere Anfragen erfahren wir von den Verwaltungen immer nur, daß es noch keine konkreten Zahlen für die einzelnen Projekte gebe. Aber Ablehnungsbescheide wurden bereits verschickt.

Welchen politischen Hintergrund vermuten Sie hinter diesem Vorgehen?

Ich sehe dies als Ausdruck der grundsätzlichen Hilflosigkeit des Senats, angesichts der angespannten Finanzlage ein politisches Programm für ganz Berlin festzulegen. Er hält sich den Rücken frei, um nach dem „trial and error“-Verfahren Politik zu betreiben und sich Manövriermasse zu erhalten. Es finden völlig planlose Verteilungskämpfe zwischen den Senatsverwaltungen statt. So kann aber keine Politik gemacht werden. Der Senat kann in dieser Situation nicht machen, was er vierzig Jahre lang gemacht hat.

Was könnte man besser machen? Es ist ja nicht die Schuld des Senats, daß Berlin plötzlich doppelt so groß ist und Bonn mit den Geldern geizt.

Es fehlt der politische Gestaltungswille, die Phantasie und der Mut, neue politische Wege zu gehen. Es gibt alternative Finanzierungsmodelle, die der Senat nutzen könnte. Auch der Haushalt hätte anders verteilt werden können, wenn die Verantwortlichen sich entsprechend eingesetzt hätten. So mogeln sich die Verwaltungen durch und werden sich im Herbst wundern, daß sie die Gehälter nicht mehr zahlen können. Und die Projekte müssen damit rechnen, daß die Ablehnungsbescheide in der Sommerpause kommen, wenn alle im Urlaub sind. Noch kürzt der Senat nur da, wo er den wenigsten Widerstand erwartet. Aber es wird einen heißen Herbst geben.

Hat sich die Zusammenarbeit mit den Senatsverwaltungen unter der Großen Koalition verändert?

Die Zusammenarbeit ist wesentlich schlechter geworden. Die gesellschaftlichen Gruppen, die das soziale Netz in dieser Stadt aufrechterhalten, werden nicht mehr als politische Kräfte, sondern als Antragsteller behandelt. Die Große Koalition ist auf dem besten Weg, sämtliche vorhandenen Kommunikationsstrukturen abzubrechen. Ein Senat ohne Gestaltungskraft mit Omnipotenzgebaren bildet sich ein, er alleine schaffe das schon irgendwie.

Halten Sie die derzeitige Politik für eine Abrechnung mit dem rot- grünen Senat, der den Projekten immer recht wohlgesonnen gegenüberstand?

Ja. Es ist auffallend, daß die Projekte, die unter Rot-Grün ins Leben gerufen wurden, fast alle gekürzt oder eingestellt werden.

Hat der rot-grüne Senat nicht vielleicht auch mehr Geld ausgegeben, als vorhanden war?

Das mag schon sein, aber wir reden hier von Senatsverwaltungen, die im Gegensatz zu Bau und Inneres schon immer stiefmütterlich behandelt worden sind. Auch da müßte sich einmal etwas tun.

Wie schätzen Sie die gesellschaftlichen Auswirkungen der derzeitigen Politik ein?

Ich sehe eine permanente Verschlechterung des Lebensstandards kommen, vermehrte Aggressivität auf der Straße und eine zunehmende Verwahrlosung und Ausgrenzung von gesellschaftlichen Randgruppen. Die jetzige Politik ist bereits vollkommen kurzsichtig und wird zu enormen Folgekosten führen. Und mit der Mißachtung der Projekte wird wesentliches Know-how und Kapital verschleudert.

Wie sehen Ihre Perspektiven aus?

Wir müssen deutlich machen, was die Projekte in dieser Stadt leisten. Das können wir aber erst dann, wenn konkrete Zahlen bekannt sind. Außerdem werden wir versuchen, gesellschafts- und finanzpolitische Alternativen aufzuzeigen und unter anderem einen alternativen Haushaltsplan vorlegen. Langfristig müssen wir uns um eine verstärkte Lobbyarbeit bemühen. Jeannette Goddar

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