Überall dabei und unumgänglich

■ Zum 100. Geburtstag des Kritikers und Herausgebers Willy Haas

Berlin 1925. Der junge Filmkritiker Willy Haas sitzt an seinem Schreibtisch in der Redaktion des 'Filmkuriers‘, als das Telefon klingelt. Am Apparat ist der Verleger Ernst Rowohlt. Haas möge doch möglichst schnell zu ihm kommen, er habe eine dringende Angelegenheit mit ihm zu besprechen. »Ich ging sofort hinüber, ein paar Ecken von der Leipziger zur Potsdamer Straße. Rowohlt setzte mir auseinander, er würde gern in Deutschland eine literarische Wochenzeitung nach Art der 'Nouvelles Littéraires‘ machen, und ob ich wohl die Herausgabe übernehmen würde. Ich war völlig überrascht. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Zeitung herausgegeben und hatte eigentlich keine Ahnung, wie man so etwas macht. Daraufhin sagte ich natürlich sofort ja...«

In seinen Lebenserinnerungen schildert Willy Haas, wie er zum Herausgeber der Wochenzeitschrift 'Die Literarische Welt‘ wurde, des Organs, das zu einem bedeutenden Faktor im deutschen Geistesleben der zwanziger Jahre werden sollte und das der Autor Hermann Kesten »die bekannteste und beste Literaturzeitung dieser Jahre« nannte. Die Berliner Pressewelt reagiert anfangs sehr skeptisch auf das waghalsige Projekt des damals erst 34jährigen Journalisten, der den meisten ein wenig bekannter Neuling ist. Dabei verfügt Willy Haas längst über das nötige Rüstzeug für seine neue Aufgabe: umfangreiche Kenntnisse der Literatur, Kontakte zu Autoren und Künstlern und vor allem den Spürsinn für noch unentdeckte Talente.

Am 7. Juli 1891 als Sohn deutsch- jüdischer Eltern in Prag geboren, hat er bereits als Kind Freundschaft zu dem etwa gleichaltrigen Franz Werfel geschlossen. Er besucht das Piaristenkloster, an dessen Schulbänken auch schon Rainer Maria Rilke gesessen hat. Später, im Stephangymnasium, macht er Werfel mit Max Brod bekannt, den er durch familiäre Beziehungen kennt und der — wie auch sein Freund Franz Kafka — auf derselben Schule ist. Willy Haas wird in eine literarische Welt hineingeboren. Über seine Zeit als Jurastudent an der Prager Universität schreibt er: »Unser kleiner Kreis war vor 1914 sehr gewachsen. Der Gymnasiast Ernst Deutsch war zu uns gekommen. Er wollte Schauspieler werden. Dann Paul Kornfeld, der Dramatiker, dann die Dichter Otto Pick und Rudolf Fuchs und der geistreiche Ernst Polack, der uns zuerst Stendahl und den jungen André Gide nahebrachte.« Gemeinsam mit Otto Pick gibt Willy Haas 1911 bis 1912 die 'Herder-Blätter‘ heraus, eine kleine literarische Studentenzeitschrift, in der damals noch unbekannte Autoren wie Franz Werfel, Max Brod, Franz Kafka, Robert Walser und Robert Musil erste literarische Arbeiten veröffentlichen. In den wenigen Nummern, auf Pump hergestellt, kommt erstmalig das zum Ausdruck, was später als die ‘Prager Schule‚ in die Literatur eingehen wird. Haas sind die 'Herder-Blätter‘ eine Feuerprobe für seine Herausgebertätigkeit in Berlin. Viele der Prager Freunde schreiben später auch für die 'Die Literarische Welt‘.

Mit 22 hängt Haas sein Jurastudium an den Nagel, folgt seinen Freunden Werfel und Walter Hasenclever, um wie diese als Lektor beim Kurt-Wolff-Verlag in Leipzig zu arbeiten. Doch der Erste Weltkrieg setzt dieser Zeit abrupt ein Ende. Einer nach dem anderen wird zur Armee einberufen. Willy Haas dient bis zum Zusammenbruch der k.u.k.-Monarchie als österreichisch-ungarischer Offizier. Danach zieht es ihn in die deutsche Hauptstadt, in das kulturelle Zentrum der zwanziger Jahre, nach Berlin. Denn »Berlin war ja nicht nur Berlin, es war nicht nur der Pariser Platz und Kastans Panoptikum und Raabes Sperlingsgasse und der Kupfergraben und der Grunewald und der Tiergarten mit der Siegesallee. Es war auch der junge Kokoschka und der junge Chagall, am Tische Herwarth Waldens im Café des Westens sitzend, der Futurist Martinette im Frack vor dem Café, das 'Manifest der Futuristen‘ verteilend, es war auch eine Nacht im Mansardenzimmer der Else Lasker-Schüler, zusammen mit Ernst Blaß: Und die große Dichterin erzählte uns die ganze Nacht hindurch Märchenabenteuer aus ihrer Kindheit.« Diese Stadt wird Haas zum Forum. Hier wird er vom Redaktionsdiener der Filmtageszeitung 'Filmkurier‘ zum angesehenen Filmkritiker und Drehbuchautor. 1924 verfaßt er das Drehbuch zum Film Die freudlose Gasse. Der Regisseur Georg Wilhelm Pabst sucht noch eine Schauspielerin für die weibliche Hauptrolle. Er berät mit Haas hin und her. Pabst erwähnte eine Darstellerin, die er in einer Nebenrolle in dem Gösta-Berling-Film von Mauritz Stiller gesehen hat. Auch Haas war das Gesicht aufgefallen. Beide einigen sich, das Risiko einzugehen und die Hauptrolle mit dieser völlig unbekannten Frau zu besetzen. »Wie heißt sie denn?« fragt Haas. »Greta Garbo«, antwortet Pabst. »Berlin war das Glück meines Lebens«, schreibt Willy Haas rückblickend in seiner Autobiographie. »In Berlin gab es einen wirklichen Aufstieg, eine wirkliche Entfaltung der Begabung — sei sie nun groß oder klein.« Der Anruf von Ernst Rowohlt wird für Haas zum entscheidenden Wendepunkt.

Am 9. Oktober 1925 erscheint für den Preis von 20 Pfennigen die erste Ausgabe seiner 'Literarischen Welt‘ mit Beiträgen von Thomas Mann, Hans Fallada, Jean Cocteau und Axel Eggebrecht. Im Mittelpunkt des neuen Blattes steht die kritische Berichterstattung über das kulturelle, im besonderen das literarische Leben im In- und Ausland. Junge Publizisten kommen ebenso zu Wort wie bereits bekannte Autoren. 'Die Literarische Welt‘ bringt als erste unveröffentlichte Stücke aus Franz Kafkas Tagebüchern.

In Interviewzyklen berichten namhafte Schriftsteller wie Alfred Döblin, Hugo von Hofmannsthal oder Bert Brecht von ihren neuesten Werken, erzählen von ihrem Arbeitsalltag. An Themen mangelt es in diesen literarisch-lebendigen Jahren zu keiner Zeit. »Es ist heute fast unvorstellbar«, schreibt Willy Haas, »was mir damals zur Verfügung stand. Rilke, Hofmannsthal, Werfel, Rudolf Borchardt, Döblin, Hermann Hesse, Robert Musil, Gottfried Benn waren auf der Höhe ihres Schaffens. James Joyce hatte in Paris vor kurzem seinen Ulysses herausgegeben. Marcel Proust war vor drei Jahren gestorben, sein großer Romanzyklus ‘A la Recherche du Temps Perdu' war beim Verleger Gallimard erschienen. In Deutschland waren die Expressionisten an der Tagesordnung, in Frankreich die Surrealisten...« Sehr bald wird 'Die Literarische Welt‘ zu einem wichtigen Organ, in dem sich das ganze Spektrum des literarisch-kulturellen Lebens der zwanziger Jahre widerspiegelt. Der Schriftsteller Hans Sahl, damals selbst Journalist in Berlin, erinnert sich an sie als »der Gradmesser für literarische Werte« und stellt sie in eine Reihe mit der 'Weltbühne‘ und dem 'Tagebuch‘. »Diese drei waren maßgeblich für uns alle.«

Nach drei Jahren zählt das Blatt 20.000 Abonnenten bei einer Auflage von 28.500 Exemplaren. Trotz einiger Schwierigkeiten nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 kann 'Die Literarische Welt‘ des Willy Haas noch bis zum Jahr der Machtergreifung Hitlers bestehen. Dann allerdings gibt es keine Chance mehr für das linksdemokratische Blatt. »Anfang 1933 wurde es für uns fast unmöglich, redaktionelle Pläne auszuführen: eine beträchtliche Zahl der Mitarbeiter war schon aus Deutschland ausgewandert und die es nicht waren, dachten, mit wenigen Ausnahmen, nicht daran, an einem so kompromittierten Blatt weiter mitzuarbeiten.« Willy Haas, selbst jüdischer Intellektueller, muß sein Lebenswerk verkaufen und ebenfalls emigrieren. Nach 13 Jahren zurück in seiner Heimatstadt Prag, versucht er gemeinsam mit Otto Pick eine Weiterführung des Blattes, was sich als unmöglich erweist. Mit dem Niedergang der ersten demokratischen Republik in Deutschland zerbricht auch das lebendige deutsche Geistesleben der zwanziger Jahre. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Prag flieht Willy Haas ins Exil nach Indien, wo er wieder als Drehbuchautor arbeitet. Erst 1948 kehrt er nach Deutschland zurück und lebt bis zu seinem Tod 1973 als Kritiker und Essayist in Hamburg. Seine Zeitschrift, die eine ganze Generation literarisch erzogen hat, kann nach 1945 nicht wiederholt werden. Das schillernd- turbulente Berlin gehört ebenso der Vergangenheit an wie die bunte Geisteskultur dieser Epoche. Hans Sahl, der diese literarische Welt noch erlebt hat und sie selbst mit gestaltete, erinnert sich an den Prager Literaten, der am 7. Juni 100 Jahre alt geworden wäre: »Er war überall mit dabei, er war unumgänglich. Ich habe ihn sehr bewundert, als einen Homme de Lettres.« Ines Rotermund