Spätlese

■ Richard Ford: "Wildlife/Wildleben" / Jorge Ibargüengoitia: "Die toten Frauen"

Richard Ford ist Amerikaner, und er schreibt, wie man das von Amerikanern so kennt, und das kann einem gefallen oder auch nicht, aber man sollte jedenfalls wissen, was einen erwartet, wenn man sein neuestes Buch aufschlägt, und da stehen dann so Sätze wie: „Ich stand da und beobachtete sie, als ob ich als nächster sprechen würde, obwohl ich wußte, daß das nicht so war.“, oder: „Sie sah aus, als lächelte sie immer noch, tat es aber nicht.“, oder: „,Die Leute glauben, daß sie ewig leben, nicht?‘, sagte mein Vater. Irgendwas an der Frau auf der anderen Straßenseite ließ ihn das sagen.“

Wie gesagt, das ist so amerikanische Art, wie wir das auch von Hemmingway kennen, der ja ein großer Meister darin war, uns Geschichten zu erzählen, die sich von einem „sagte er“ zum nächsten „sagte sie“ wie selbstverständlich fortbewegen, wie von einem Darquiri zum nächsten Darquiri und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und dann wieder bis Sonnenaufgang, und zwischen diesen einfachen Sätzen gibt es dann immer wieder solche, bei denen einem klar wird, daß alles eben doch nicht so einfach ist, wie es auf den ersten Blick aussieht, denn immer wieder gibt es Menschen, die sich wundern, daß einfach alles immer so weitergeht, und irgendwie dazu gebracht werden, solche Sätze zu sagen, die das ganze Leben irgendwie auf den Punkt bringen und zusammenfassen, wie zum Beispiel: „,Die Leute glauben, daß sie ewig leben, nicht?‘“

Und es gehört auch dazu, zu diesem Amerikanischen, daß man in jedem Satz merken muß, daß es eben doch eine Übersetzung ist, denn es ist ja so, daß man einem deutschen Autor solche Sätze nie und nimmer durchgehen lassen würde, sondern die Literaturkritik aufstöhnen würde und sagen, daß man solche Sätze einfach nicht mehr schreiben kann, und diese Kurzgeschichtenmanier, mit der da das Leben abgepackt und handlich wird, doch einfach von gestern ist oder jedenfalls Nachkriegsware.

Da kann Richard Ford aber froh sein, daß er ein Amerikaner ist, weil, wenn er einen Ehebruch beschreibt aus der Sicht eines sechzehnjährigen Jungen mit diesen Fertigsätzen, die direkt aus dem Baukasten genommen sind, wo Hemmingway draufsteht, dann sagt man ihm nicht so etwas, sondern spricht von dieser bittersüßen Intensität und der Kraft der Lakonie, oder man schreibt, daß man sich diesen Amerikaner wird merken müssen und daß sein großes Thema die Brüchigkeit aller Bindungen ist, und das ist ja auch ein großes Thema, und weil es ein so großes Thema ist und uns alle so traurig und haltlos macht, sind wir eben so froh, daß da einer hingeht und es irgendwie ganz einfach beschreibt, und daß wir uns, wenn wir das lesen, nicht ärgern müssen, daß es wieder so kompliziert und sprachlich so merkwürdig dialektisch beschrieben wird, sondern eben so einfach und klar, daß man immer zuhören könnte, weil dieser Richard Ford ganz voll ist mit diesen Geschichten, bei denen die Sätze immer so weitergehen mit einem 'und‘ und noch einem 'und‘ und...

Richard Ford: Wildlife/Wildleben. Roman, aus dem Amerikanischen von Martin Hielscher. S. Fischer Verlag, 191 Seiten, gebunden, 29,80 DM

Anfang der sechziger Jahre sterben in Mexiko sechs Frauen eines ganz und gar unnatürlichen Todes. Es ist leichter, ihren Tod als ihre Herkunft und ihr Leben zu rekonstruieren, denn es handelte sich um Prostituierte: um Frauen also, die im späten Kindesalter von ihren Eltern, gutgläubig oder nicht, für ein paar Wochenlöhne abgetreten wurden an in diesem Fall zwei Frauen mittleren Alters, die, korrekt gekleidet und durchaus ehrbaren Benehmens, versicherten, sie würden Schuhverkäuferinnen suchen, Friseusen oder Hilfen im Laden. Das letzte ist nicht ganz falsch, wenn es sich auch bei diesem Laden um einen handelt, den man in Mexiko nur stundenweise betritt.

Die beiden Frauen sind ein gutes Team: Arcángela ordentlich und geizig, von lebloser Entschiedenheit und hohem Organisationstalent; ihre Schwester Serafina so charmant und attraktiv, wie für eine Puffmutter nur wünschenswert, dabei nicht minder entscheidungsstark als ihre Schwester, aber von einem Mangel umgetrieben: dem tiefen Mangel an Zweisamkeit. Serafina verliebt sich, sie verliebt sich unglücklich, und sie wird schmählich verlassen. Sie besorgt sich eine Pistole, lernt mit Bedacht und Umsicht zielen und arbeitet versessen an der Erfüllung ihres privaten Traums: den Mann, der sie verlassen hat, auf offener Szene niederzuschießen.

Mit diesem Drama, das keinen Toten kostet, beginnt die Entrollung eines Kriminalfalls, der in Europa nicht literaturfähig wäre und in Mexiko einen bemerkenswerten Roman initiierte: Die toten Frauen. Es handelt sich um ein düsteres, zugleich unendlich komisches Buch über einen Fall, der eher berichtet als erzählt wird: wie in einem Gerichtsprotokoll kommen Protagonisten und Randfiguren zu Wort, wird der ungeheuerliche Vorfall, um den es geht, langsam von allen Seiten eingekreist.

Es entspricht der Lakonie des Erzähltons, daß die zunächst wesentlich erscheinenden Begebenheiten sich im Fortgang der Geschichte als Ablenkungen erweisen, daß der Zufall die Rolle der eigentlichen Entscheidungsmacht spielt, daß die Protagonisten überleben und die Nebenfiguren zu Tode kommen — und daß die, denen die Todeswünsche gelten, friedlich ihre Rente verzehren, während andere in Gräbern liegen, die ihnen das Mißgeschick ausgehoben hat, die absichtslose Roheit, die gedankenlose Notwehr, die Überkalkulation... Der Schrecken, der das Buch durchzieht, bleibt lange unterirdisch. Bis zur Beschreibung der Tathergänge wohnt man einer Gesellschaftsposse bei, in der mediokre Politiker, souveräne Puffmütter und ihre weniger selbstbewußten Kunden die gut besetzten Hauptrollen spielen. Die Hauptfiguren des Todes, allesamt Opfer unglücklicher Umstände und beiläufigen Ungeschicks, kommen erst als Leichen in den Blick.

Jorge Ibargüengoitia anerkennt und unterläuft so deren Rolle in der Gesellschaft: Wären sie friedlich gestorben, verarmt und bescheiden gealtert, krähte kein Hahn mehr nach ihnen. Nur ihr gewaltsames Ende sorgt dafür, daß das Gericht als Vollstrecker verspäteter Zurkenntnisnahme ihren armseligen Lebensläufen nachforscht: von den Eltern verhandelt, von den Puffmüttern übervorteilt, von den Kunden geliebt, bis die Funktionstüchtigkeit nachläßt. Und in dieser Verschobenheit, in diesem Zielpunkt fremder Kommandos ohne Entschluß dazu eigenartig: Die eine, zu häßlich für ihren Job, macht sich durch Küchendienste und Denunziation bei den Chefinnen unentbehrlich; die andere, häuslich veranlagt, führt ihrer Freundin im Puff den Haushalt; die dritte, narzißtisch und einfallsreich, spielt für jeden Mann die Frau, von der er träumt und wechselt Namen und Lebensgeschichten. Ihr aller Tod ist ein gemeiner Zufall und errichtet ihnen das, was sie im Leben nicht hätten erwerben können: einen beschrifteten Grabstein.

Jorge Ibargüengoitia: Die toten Frauen . Aus dem Spanischen hervorragend übersetzt von Peter Schwaar.

Suhrkamp Verlag, 165 Seiten, gebunden, 14,80 DM