Wege aus der totalitären Verstrickung

■ Wie vergleichbar ist 1946 mit 1989? Überlegungen zu einem Text von Walter Dirks

1989, so wird gesagt, war für Deutschland das Ende der Nachkriegszeit. Aus dem Provisorium Bundesrepublik Deutschland wurde ein — rechtlich gesehen — souveräner deutscher Staat. Und zu Ende geht zur selben Zeit, mit dem Tod von Personen wie Walter Dirks, auch die Epoche jener Menschen, die der Bundesrepublik, also dem demokratischen Deutschland, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus auf den Weg halfen. Nicht in direkter staatlicher Verantwortung, im Gegenteil. Ihr geistiger Einfluß war es, der, wenn auch mit 20 Jahren Verspätung, schließlich in die bewußte Aneignung der jüngeren deutschen Geschichte mündete.

Dirks und andere haben einen Maßstab gesetzt für Debatten um Schuld der Eltern und das Mitmachen im Nationalsozialismus 20 Jahre später. Die im folgenden wiedergegebenen Auszüge aus dem Text „Der Weg zur Freiheit“ von Dirks sind ein Beispiel, das auch heute nichts an Aktualität verloren hat.

Das Ende der Nachkriegszeit im Jahr 1989 war zugleich auch das Ende jenes zweiten deutschen Staates, der sich als antifaschistischer per definitionem von der Schuldfrage ausgenommen sah. Daß die Diskussion um die totalitäre Verstrickung in der DDR vermeintlich überflüssig war, denn schließlich hatte ja der Klassenfeind Hitler hervorgebracht, das erweist sich heute bei der Überwindung der Deformationen der Gesellschaft und Öffentlichkeit in der ehemaligen DDR als ein schwerwiegender Mangel. Vieles, allzuvieles, was im Zusammenhang mit der Stasi hochkommt, wird nach genau jenen Mustern beiseite geschoben, die Dirks in der Nachkriegszeit der späteren BRD beklagt. Daß die Millionen, die an den Parteiaufmärschen der SED teilnahmen, nicht mit der Knute dorthin getrieben worden waren, das wissen alle. Und ebenso kann sich die runde halbe Million von Stasi-Mitarbeitern, ganz zu schweigen von denen, die indirekt profitierten und zuarbeiteten, nicht in Luft aufgelöst haben.

Anders aber als in der Nachkriegszeit ist die neue, wiedervereinigte Bundesrepublik weder in ihrem größeren alten noch in ihrem neuen Teil eine, die betäubt wäre durch eine vernichtende Niederlage — und, wie damals, durch das allmähliche Aufdämmern eines Bewußtseins der Schuld zumindest bei ihren besten Köpfen. Im Gegenteil, der Mythos von der guten, der friedlichen Revolution geht um. Das macht die Diskussion um die totalitäre Verstrickung schwierig und leichter. Schwierig deshalb, weil die bequeme Ausrede nur allzu nahe liegt, man habe es ja schon immer mit dem demokratischen Teil gehalten. Daß die Demokraten nur eine verschwindende Minderheit darstellten, gerät inzwischen in Vergessenheit. Leichter, weil eben in dieser Berufung auf den demokratischen Teil ein Gutteil moralischer und demokratischer Selbstverpflichtung steckt. Diese zu aktualisieren, sie umzusetzen in das, was Dirks das „Ja zu seiner Schuld“ nennt, das würde tatsächlich die innere Einheit der neuen Bundesrepublik begründen — vor allen neuen Verfassungen und sonstigen Gründungsakten. Ohne Klarheit über Schuld wird es keine Versöhnung, keinen Schlußstrich geben können. Einfach deshalb, weil der Verdacht bleibt.

Die Arbeiten von Walter Dirks aus der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sind ein schönes Beispiel für jene Kunst „auf krummen Wegen gerade zu gehen“, die immer schon innerster Kern des individuellen Widerstands gegen die totalisierende Vereinnahmung war. Ulrich Hausmann

Walter Dirks: Der Weg zur Freiheit

Die deutsche Selbsterkenntnis ist die fundamentale Voraussetzung jeder guten deutschen Zukunft.[...] Ort dieser Selbsterkenntnis ist nicht die Öffentlichkeit, nicht die Zeitung, sondern das Gewissen. Denn der Ort der Schuld selbst ist der einzelne, ist die Person. Es gibt eine Kollektivhaftung, nicht aber im eigentlichen Sinne eine Kollektivschuld. Dieser fragwürdige Begriff verlockt zu einer bedenklichen Mythisierung der Schuld, welche der wahren Selbsterkenntnis im Wege steht. Der Begriff der Kollektiv-Schuld muß ent-mythisiert werden. Das heißt die Schuld muß konkret bestimmt, klar umrissen und genau unterschieden werden. Die Schuld muß lokalisiert werden; es muß genau ermittelt werden, wo sie sitzt; sie muß benannt werden; es muß genau gesagt werden, worin sie besteht.

Diese Arbeit der Ermittlung der Schuld kann keiner dem anderen abnehmen. Jeder Deutsche muß sie leisten, und unsere Zukunft hängt davon ab, ob sich genügend viele und genügend maßgebliche Deutsche finden, die sie leisten und aus der daraus gewonnenen Klarheit, Lauterkeit, Kraft und Freiheit politisch handeln. Der eine kann dem anderen dabei helfen, an seine Einsicht appellieren, ihm „ins Gewissen reden“, und die Publizistik kann gewisse Hilfsdienste tun, indem sie typische Verschuldungen benennt, in denen wie in Spiegeln der einzelne seine Schuld erkennen kann. Aber die eigentliche Arbeit selbst kann dem einzelnen niemand abnehmen. Man kann ihm seine Schuld auch nicht „beweisen“ noch auch einreden oder einhämmern: In jenem tiefsten Bereich der Person, in dem ein Mensch über sich selbst verfügt, im geheimnisvollen Bereich der Freiheit, im Gewissen also, gilt kein Zwang, kein Beweis. Man kann an diese Freiheit appellieren, mit Engelszungen oder mit erschütternder Anklage: es ist am einzelnen allein, ob er einen der vielen Auswege wählt, auf denen der Mensch der Begegnung mit seiner Schuld zu entgehen sucht (Trotz, Stolz, Verhärtung und Verstockung; Pharisäismus: „Die anderen sind auch nicht besser“; Depression, Melancholie, Neurose, Flucht in die Krankheit, Selbstmord) oder ob er seiner Schuld ins Auge sieht, sie erkennt und schlicht und ohne Winkelzüge Ja sagt: Ja, dies ist meine Schuld. In diesem Ja zu seiner Schuld spricht der Mensch zugleich das Nein der Umkehr. Dieses Nein der Reue hat reinigende und aufbauende Kraft, weil es im Grunde gar nicht negativ ist, sondern aus einem anderen Ja kommt, dem tiefsten Ja, das der Mensch sagen kann, dem Ja zur Wirklichkeit Gottes, dem Ja zu seinem eigenen persönlichen Wesen [...]

Im eigentlichen, abkürzenden Sinne kann man freilich gleichwohl kollektiv von der Schuld reden. Man kann von der „deutschen Schuld“ reden, indem man dabei die Schuld vieler Deutschen meint, und in demselben Sinn kann von der „Schuld der Sozialdemokratie“, von der „Schuld der Kommunisten“, der „Schuld der Christen“ sprechen. Es wäre sogar gut, wenn mehr in diesem Sinne gesprochen würde; solche Selbsterkenntnisse der Gruppen wären der Beginn einer Lokalisierung der Schuldfrage. Freilich sollten weniger die Kommunisten von der Schuld der SPD und umgekehrt, die Christen von der Schuld der Ungläubigen reden und umgekehrt, als vielmehr jede Gruppe vor allem von der eigenen Schuld. Dabei kommt es weniger auf das Pathos der Gefühle, als auf genaue Feststellungen an. Diese sauberen und offenen Teil- Analysen stehen noch aus. [...] Das normale deutsche Schuldbekenntnis lautet immer noch: „Das deutsche Volk ist abgründig schuldig. Wir bekennen es ehrlich und aufrichtig. Meine Gruppe und ich selbst freilich sind völlig unschuldig.“ Eine solche Erklärung mag hier und da berechtigt sein (wahrscheinlich ist es ganz selten), aber als Erklärung zur Schuldfrage ist sie ein aufgelegter Schwindel; sie ist das Gegenteil: pharisäische Anklage. Und sie läutert und kräftigt nicht, sondern vergiftet und verstockt, sie macht den Weg nicht frei, sondern sie verstellt ihn.“

Die Auszüge sind den Frankfurter Heften , Nr. 4, 1946 entnommen. Das Werk von Walter Dirks erscheint im Ammann-Verlag, Zürich.