„Nach 8 Stunden Arbeit ist der Tag kaputt“

■ „Zeitpioniere“ — eine Untersuchung von Aachener Soziologen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit von unten/ Immer mehr Arbeitnehmer verordnen sich Zeitdiät/ Aber noch sind „Zeitpioniere“ Außenseiter und ziehen Skepsis und Neid auf sich

Flexibel ist die Arbeitswelt geworden, wo es um Fertigungstechnik, Lagerhaltung und die Bedienung rasch wandelbarer Kundenwünsche geht. Flexibel sind Arbeiterteams, die automatisierte Produktionsanlagen fahren, die Qualität der Produkte prüfen und die Maschinensysteme instand halten. Flexibel sind auch jene, die nach den Erfordernissen rollierender Schichtpläne oder nach Kundenfrequenzen in Kaufhäusern den täglichen Dienst geregelt bekommen.

Doch stets sind es die Arbeitgeber, die Flexibilität definieren und verordnen, Beschäftigte der unteren Hierarchieebenen haben wenig betriebliche Gestaltungsrechte. Die Industriegesellschaft westlich-kapitalistischer Prägung ist auf Leistung, Disziplin und Wirtschaftlichkeit abgestellt, Effizienz und straffe Planung bestimmen den Betriebsablauf. Dem Streben nach einem freieren Rhythmus der Arbeit, individuell arrangierten Arbeitszeiten etwa, sind — auch unter Angestellten — immer noch enge Grenzen gesetzt.

Aber es gibt sie: Beschäftigte in abhängiger Stellung, die dem verfestigten Zeitschema der Industriegesellschaft widerstehen. Unerschrocken setzen sie alles daran, beim Arbeitgeber ein zeitflexibles Arrangement mit reduzierter Stundenzahl durchzusetzen. Gelingt ihnen das, so arbeiten sie nur 32, 28 oder bloß 20 Stunden pro Woche. Jetzt haben sie — bei entsprechend geringerem Einkommen — mehr freie Zeit für selbstbestimmte Tätigkeiten.

Zeitpioniere. Flexible Arbeitszeiten — neuer Lebensstil: Unter diesem Titel hat ein Team von Soziologen der Technischen Universität Aachen eine Studie vorgelegt, die zum Thema „Zeitwohlstand“ einen empirisch fundierten Beitrag leistet. Gestützt auf offene Interviews werden Motive und Erfahrungen von 36 Frauen und Männern verschiedener Berufe und Altersstufen untersucht, die dem Druck betrieblicher Arbeitsanforderungen erfolgreich Grenzen gesetzt haben, um Zeit für persönliche Sinnerfahrung und Selbstverwirklichung zu finden. Der eigenständige Umgang mit Zeit, der den Charakter ihrer Alltagsgestaltung gravierend verändert, macht sie in den Augen der Wissenschaftler zu Vertretern eines neuen Lebensstils — eben zu Zeitpionieren.

Der Ausdruck scheint hochgegriffen, erfährt man, daß das, was dieser Typ von Beschäftigten will und empfindet, durchaus nichts Ungewöhnliches ist, weil unterschwellig alle es wollen. „Ich stehe einfach auf dem Standpunkt, wenn ich normal acht Stunden arbeite, ist der Tag irgendwie kaputt“, bemerkt eine/r der Befragten lapidar. Nach Motiven befragt, antworten die Zeitpioniere oft mit lakonischer Kürze: „Ich wollte mehr Zeit für mich haben — so einfach. Persönlich habe ich mehr davon, wenn ich weniger arbeite.“

40 Stunden pro Woche zu arbeiten, das erfüllt sie nicht, sie wollen mehr vom Leben. Auffallend ist, daß die Untersuchten vom Korsett der Normalarbeitszeit abrücken, ohne sich festzulegen, wie sie die rückgewonnenen Freiräume nutzen wollen. Ihr Ziel ist Zeit an sich. Die ist dann gestaltbar nach persönlichen Bedürfnissen, die im Erlebnis ungegängelter Zeitverwendung selber erst zutage treten.

Nicht, was sie tun, sondern wie sie es tun, unterscheidet die Vorkämpfer individuell flexibler Arbeitszeiten von anderen. Auch sie erziehen Kinder, arbeiten im Garten, führen Gespräche mit Freunden und gehen in die Kneipe. Aber sie tun es und nehmen sich Zeit, statt es bei Absichten zu belassen. Sie setzen sich ab von Stress und Termindruck und pflegen eine gelassene Gangart. So sind sie bei allem offener und unverbrauchter. Oder wie die Autoren sagen: Sie verordnen sich eine Art Tempodiät, kultivieren den Umgang mit Zeit.

Verweilen in der Zeit, befreit von der Fron der Zwecke — das ist die Kontrastentscheidung einem tiefsitzenden Unbehagen gegenüber. Vollgestopft, fremdbestimmt, langweilig ist den Befragten der achtstündige Arbeitstag. Sollte der über Jahre hinweg die den Alltagsrythmus bestimmende Perspektive bilden, hieße das bei ihnen, von einem Wochenende zum andern zu fiebern. Im gedrängten Normalarbeitstag dienen die „toten Restzeiten“, wie die Flexibilisierer das sehen, bloß dem Ausspannen, Essen und Schlafen und fallen für eine inhaltsreiche Lebensführung nicht ins Gewicht.

Mißverständnissen ist vorzubeugen: Zeitpioniere leben nicht in den Tag hinein. Und keinewegs schwören sie dem Leistungsprinzip ab. Es gehört zu den interessanten Ergebnissen der Studie, daß die Befragten mehr Arbeitsenergie an den Tag legen als viele ihrer normal arbeitenden Kollegen und manche annähernd das Pensum einer Vollzeit-Kraft erreichen. Wäre es anders, entstünden Lücken im Personalbedarf, und das Veto des Arbeitgebers wäre sicher. Der verknappte Arbeitszeitrahmen zwingt die Flexibilisierer zu mehr Selbständigkeit. Sie planen straffer, kalkulieren knapper und entwickeln große Beweglichkeit in den Absprachen mit den Kollegen. Der kürzere Arbeitstag wird dichter und belastender, kein Wunder, daß manche die gesetzlich fixierten Pausen ignorieren.

Der Zuwachs an Energie und Eigenverantwortlichkeit wird den Zeitpionieren meist schlecht entgolten. Auf Teile ihres Einkommens und künftiger Rentenansprüche verzichten sie ohnehin. Daneben warten gravierende Widerstände am Arbeitsplatz. Die Denkschablone heißt Vollerwerbstätigkeit. Wer kürzer arbeitet, ohne nachvollziehbaren Zwängen zu unterliegen, erntet Ressentiments. Da gibt es Vorgesetzte, die sich in Frage gestellt sehen, weil der oder die Untergebene ihren Anweisungen entwächst. Und da sind Vollzeit-Kollegen, die mit Skepsis, Neid und offener Diskriminierung auf die „Abtrünnigen“ reagieren. Nur die erscheinen ihnen als tüchtig und zuverlässig, die kontinuierlich und ausdauernd, und das heißt immer schon: in Übereinstimmung mit den industriellen Zeitnormen handeln.

Auf diese Weise geraten die Individualisten der Zeit in den Ruch von Außenseitern, die die eingespielte Betriebsroutine durcheinander bringen und Ärger unter den Kollegen verursachen.

Dabei ist nur allzu verständlich, was Zeitpioniere wollen: Spaß machen, den Horizont erweitern, einen persönlichen Bezug haben soll die Arbeit. Nichts schreckt sie mehr als ein starrer Zeitrahmen, der fortwährend das Gleiche bringt und im lähmenden Einerlei einer bleiernen Routine endigt. Dafür sind sie bereit, Opfer zu bringen und auf Konsumchancen zu verzichten. Sie sind auch bereit, die Arbeitsstelle und selbst den Beruf zu wechseln, wenn anders die Gefahr der Gewöhnung und Vertrottung nicht abwendbar ist.

Derlei Zeitwünsche haben wenig mit der Flexibilisierungsdebatte der 80er Jahre zu tun. Rollierende Wochenschichten, Arbeit auf Abruf oder auch Gleitzeitregelungen, wie private und öffentliche Arbeitgeber sie propagieren und zum Teil schon lange anbieten, erhöhen die Abhängigkeit und vertiefen das industrielle Zeitregime. Peugeot in Poissy bei Paris bietet das jüngste Beispiel: Kapitalintensive Produktionsanlagen sollen sich rentieren, also legt es der französische Automobilhersteller darauf an, sie rund um die Uhr auszulasten. Beschäftigte können in die Vier-Tage-Woche einsteigen, müssen aber 10stündige Arbeitszeiten akzeptieren, die auch in die Nacht und aufs Wochenende fallen und damit das soziale Geflecht privater Tätigkeit zerschneiden.

Die Gewerkschaften sind dem verbreiteten Bedürfnis nach mehr Zeitautonomie bislang nicht sehr dienlich gewesen. Sie haben das in Jahrzehnten verfestigte industrielle Zeitgefüge verteidigt, aber die Kritik der Klientel daran, individuell geschnittene Arbeitsverträge und flexible Teilzeit-Regelungen zu erhalten, nicht ernstgenommen. Gewerkschaftliche Tarifpolitik zielte stets aufs Normalarbeitsverhältnis, darauf also, möglichst vielen Beschäftigten möglichst einheitliche tarifrechtliche Rahmenbedingungen zu verschaffen. Individualisierte Arbeitszeiten, so befürchten Gewerkschaftsfunktionäre, würden den in Jahrzehnten erreichten Bestand an kollektiven Schutzrechten gefährden und die Solidarität der Arbeitnehmer unterhöhlen. Dabei werden Zahl und Mobilisierungsbereitschaft derer wohl unterschätzt, die nach Flexibilisierung drängen. Wenn einzelne sich durchsetzen können, warum sollten es viele nicht können, die von den Gewerkschaften unterstützt werden?

Wie mit knappen Rohstoffen ist auch mit der Ressource Zeit ein anderer, bedachtsamerer Umgang möglich. „Befreiung von falscher Arbeit“ (Th. Schmid), „Eigenzeit“ (H. Nowotny), „Sechs-Stunden-Tag für Frauen und Männer“ (Grüne und gewerkschaftlich organisierte Frauen), „Gesellschaft der befreiten Zeit“ (A. Gorz) — Begriffe, die die Zeitdebatte der vergangenen Jahre prägten. Das Ende der Arbeitsgesellschaft, in den frühen 80ern ausgerufen, ist allerdings nicht in Sicht, nicht bei denen, die Arbeit haben. Rückläufig auch die lückenlosen Kontrollpraktiken und steilen Betriebshierarchien (das Ende des Fließbandes ist trotzdem nicht in Sicht; in der experimentierfreudigen schwedischen Automobilindustrie wird es mit Gruppenarbeit zum flexiblen Taylorismus kombiniert).

Daß aber Engagement in der Arbeit nachließe, Leistungs- und Verantwortungsbewußtsein schwänden, ist nicht zu beobachten. Wo die Betriebsorganisation flexibel wurde und eigenverantwortliche Arbeitsgruppen die Szene betraten, trifft eher das Gegenteil zu. Ein inhaltlich gedehntes Aufgabenspektrum hat Kompetenz und Selbstbewußtsein erhöht.

Doch Teamarbeit ist nicht flächendeckend eingeführt, noch enthebt sie von Abhängigkeit. Die neuen partizipativen Produktionskonzepte stiften keineswegs Konsens in den die Organisation des Arbeitslebens oder nur der Arbeitszeiten betreffenden Fragen. Die Systemparameter — Kosten, Umsatz, Rendite — liegen unverändert quer zu lebensweltlichen Sinn- und Zeithorizonten.

In den neuen Bundesländern und bei den östlichen Nachbarn hat man derweil andere Sorgen. Doch wenn der Aufschwung mal greift, dann wird, nach den Jahren der Gemächlichkeit und der systemerzeugten Verschwendung, auch dort ein strafferes Zeitregime einziehen. Wo nicht länger Betriebe die Kinderbetreuung organisieren, wird Teilzeitarbeit verlangt werden. Steigender Wohlstand, der Westen macht das vor, wird die Maßstäbe verändern und den Standards privater Zeitverfügung mehr Gewicht verleihen.

Im Westen greift schon jetzt mehr Eigenverantwortung Platz, arrangieren Menschen ihr Leben eigenwilliger als früher. Eine Facette der aufziehenden Individualisierung ist der selbstbestimmte Umgang mit Zeit. Eben da hat die Fallstudie über Zeitpioniere ihren diagnostischen Ort. Daß es ihn gibt, den Wertewandel, bezeugen sie, die Zeit, nicht Geld, als Mittel der Selbstdarstellung wählen. Noch sind sie Außenseiter, sind ihrer wenige. Doch die tiefe Ambivalenz an den Rändern des kulturellen Wertsystems, von der sie künden, könnte viele anstiften, ihrem Beispiel zu folgen. Rainer Fellmeth

Karl H. Hörning, Anette Gerhardt, Matthias Michailow: Zeitpioniere. Flexible Arbeitszeiten — neuer Lebensstil . Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1990