Welchen Wahrheiten lauschen sie?

■ Auf dem Kirchentag werden Zeitgeistthemen wie Umweltverschmutzung und Müllvermeidung thematisiert/ Ob ein neuer Geist hier weht, muß sich zeigen

Dortmund (taz) — Die Massen auf den Kirchentags- Papphockern in den Westfalenhallen, welchen Wahrheiten lauschen sie? „Wir müssen im einzelnen immer wieder bei den kleinen Sachen anfangen, dann wird es auch vorangehen“, erklärt Waltraut Zachhuber, zur Zeit der Wende Dompfarrerin in Magdeburg, sie sei „Optimistin“.

Auf dem Podium des Frauen-Forums in Halle 5 geht's zwar um das Thema „Widersprechen“, im Saal aber herrscht Einigkeit. Im kleinen, im Alltag, zu Hause, im Stadtrat, da müsse frau — was ihr im übrigen ja auch leichter fiele als dem Mann — reden und handeln.

Zu dieser Maxime haben die beiden West-Diskutantinnen vor den Mikrophonen sich bereits bekannt, als ihre Schwester aus dem Osten das Schlußwort spricht. Vor Weltverbesserern würde sie „lieber weglaufen“, hat Gabriele von Arnim, Autorin von Das große Schweigen, gesagt. Herzlicher Beifall, und dann werden die Papphocker zum Kleingruppengespräch in Minizirkeln sortiert.

Nebenan in Halle 6 ärgert sich eine Diskussionsteilnehmerin im Abfall-Forum zur gleichen Zeit darüber, daß ihre Mülltonne zu oft geleert und die Industrie weiter Rohstoffe verschwenden würde, was einer Verhöhnung der Müllvermeidungsbemühungen engagierter KonsumentInnen gleichkäme.

Wozu dann eigentlich die Anstrengungen im kleinen? Vom Podium spricht der Fachmann, Georges Fülgraff, Toxikologe aus Berlin: „Konsequente Müllvermeidung ist unvereinbar mit unqualifiziertem Wirtschaftswachstum.“ Im hinteren Teil der Halle, dort wo das Publikum ein- und ausgeht und es nach Tortellini riecht, schlafen zwei Jungen, hingestreckt auf vier bis sechs nebeneinandergestellten Papphockern, je nach Körperlänge.

In der ältesten, größten und mit Plakaten und Transparenten geschmückten ersten Westfalenhalle ist „Lateinamerikatag“. Ernesto Cardenal hat gesprochen. Jetzt schlägt über dem hier am dichtesten versammelten, vor allem ganz jungen, Kirchenvolk die ganze Wucht der Ökokatastrophe zusammen. Danilo Saravia, ein Experte aus Nicaragua, rechnet vor, daß schon in zehn Jahren die Regenwälder seiner Heimat vernichtet sein werden.

Die politischen Foren am Donnerstag morgen, sie sind von den Diskussionen außerhalb der Kirche nicht zu unterscheiden, sind weniger die „Zeitansage“, die die Kirchentage sein wollen, als „Zeitgeist“. Draußen flaniert das Kirchentagspublikum wie gehabt, erkennbar an den nesselfarbenen Schals, den kurzen Lederhosen der PfadfinderInnen, unbeeindruckt vom Nieselregen, immer auf der Suche nach einer Halle, einem Klo, der nächsten Bahnstation oder ein bißchen Ruhe. Brav ißt auch ein älteres Ehepaar die Waffelschälchen auf, aus denen sie ihr Reisgericht gelöffelt haben — obwohl's nicht schmeckt — aber: „Wir wollen ja Müll sparen, gell!“

Überall auf dem Gelände stehen Müllcontainer zur getrennten Abfallsammlung. Pappteller und Plastiklöffel sind verpönt, um täglich 250.000 Geschirrteile zu spülen, gibt es eine 12 Tonnen schwere, 16 Meter lange Spülmaschine, die 7.000 Teller pro Stunde reinigt. Erst im Verlauf der kommenden Tage wird sich zeigen, ob das deutsch-deutsche Thema die Anziehungskraft hat — wie vorhergesagt. Thomas Dreger