„Tisch ist und bleibt ein freier Mann“

Berliner Landgericht verurteilt den früheren FDGB-Vorsitzenden wegen Untreue zu 18 Monaten Haft/ Tisch muß nicht mehr ins Gefängnis/ Der Gewerkschaftsboß nimmt das Urteil befriedigt zur Kenntnis  ■ Aus Berlin Bärbel Petersen

Das erste Urteil gegen einen ehemaligen Spitzenfunktionär der DDR fällte gestern das Berliner Landgericht: Es verurteilte den früheren Chef der DDR-Gewerkschaft, Harry Tisch, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wegen Untreue in fünf Fällen. Die übrigen Anklagepunkte wurden verworfen.

Die 19. Große Strafkammer befand Tisch für schuldig, Urlaubsaufenthalte für sich, seine Familie und den früheren DDR-Wirtschaftsboß Günter Mittag in Höhe von 77.468,45 Mark aus der Gewerkschaftskasse finanziert zu haben. Davon gönnten sich die Familie Tisch von 1985 bis 1989 Ferien in FDGB- eigenen Heimen. Tisch selbst gab zu, 15.000 bis 20.000 Mark „Urlaubsgeld“, aus der Gewerkschaftskasse genommen zu haben. Das Gericht blieb mit seinem Spruch unter den von der Staatsanwaltschaft geforderten zweieinhalb Jahren Haft. Die Verteidiger des 64jährigen hatten auf sechs Monate zur Bewährung plädiert.

Vierzehn Jahre war Harry Tisch Chef der größten Massenorganisation der DDR, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB). Seit 1975 saß er auch im SED-Politbüro. In seiner Rolle als Gewerkschaftschef sah er sich als verlängerter Arm der Partei. Aus der Höhe des über alle Kritik erhabenen Herrschers stürzte Tisch im November 1989: Mit der Wende flog er aus dem Amt des FDGB-Vorsitzenden. Dann: Untersuchungshaft. Einen Monat später wurde er wegen des Verdachts auf Untreue von der DDR-Justiz verhaftet. Im Februar 1990 aus gesundheitlichen Gründen entlassen. Erneute Festnahme im Juli. Nach der deutschen Vereinigung übernahm die Westberliner Justiz die Anklage der DDR-Behörden. Wegen schlechter gesundheitlicher Verfassung wurde Tisch während der Hauptverhandlung wieder entlassen. Nach den Gesetzen der DDR hätte Tisch wegen der Veruntreuung von rund 70.000 Mark mit einer Haftstrafe von vier bis fünf Jahren rechnen müssen.

Die Berliner Staatsanwaltschaft hatte Tisch vor allem die Veruntreuung von 100 Millionen Mark aus dem Solidaritätsfond des FDGB für ein staatliches Jugendfestival 1984 vorgeworfen. Bei dieser „bemerkenswert unkomplizierten Entscheidung“, so der Vorsitzende Richter der Berliner Strafkammer, „kann nicht mehr mit Sicherheit von zweckdienlicher Veruntreuung gesprochen werden“. Belastende Unterlagen seien nicht mehr aufzufinden. Im Gegensatz dazu, räumten die Richter ein, sei man im FDGB bei Bagatellbeträgen aber „pinnig“ gewesen.

Das Gericht erklärte weiter, bei der Urteilshöhe das Alter und die bisherige Straffreiheit des Angeklagten berücksichtigt zu haben. In seinen einleitenden Worten betonte der Vorsitzende Richter Hansjürgen Herdemerten, daß die Kammer die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen konnte. Dies hätte auch nicht ihre Aufgabe sein können, ebensowenig wie die in das Urteil gesetzten „Erwartungen von historischer Dimension“. Tisch bleibt weiterhin auf freiem Fuß. Unter Anrechnung seiner über einjährigen Untersuchungshaft müßte er zwar noch einige Monate absitzen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. Äußerst zufrieden mit dem Urteil zeigte sich Tischs Anwalt Hubert Dreyling: „Es ist ein großartiger Erfolg für Tisch. Tisch kann zufrieden sein. Tisch ist ein freier Mann, er geht nicht mehr ins Gefängnis.“