INTERVIEW
: „Die IG Metall hat Modellcharakter“

■ Der Harvard-Politologe Andrei S. Markovits über gewerkschaftliche Zukunftskonzepte

taz: Die IGM präsentiert sich voller Selbstbewußtsein. Tut sie das zu Recht?

Markovits: Sie tut es zu Recht, weil sie Europas weitaus wichtigste Gewerkschaft ist. Die Welt hat sich schnell geändert. Deshalb ist es sehr wichtig, daß die IG Metall am Ball bleibt, daß sie gehört wird und auch selber zuhört. Ob sie es will oder nicht: Die IG Metall ist ein Modell und muß damit sehr wichtige Funktionen beim Umbau von Europa übernehmen.

Muß die IGM nach dem Zusammenbruch des Ost- West-Gegensatzes ihre Modernisierungsdebatte noch einmal von vorn anfangen?

Die Diskussionen müssen sich ergänzen. Von der IG Metall, von der Sozialdemokratie, Teilen der Grünen und der gesamten westdeutschen Linken wurde Osteuropa vernachlässigt. Es hat sich eine ganz neue Welt entwickelt, wo die Bundesrepublik und eben auch die IG Metall eine führende Rolle spielen werden.

Welche spezifisch gewerkschaftlichen Strategien sind angesichts des realsozialistischen Zusammenbruchs notwendig?

Das wichtigste ist eine starke, solidarisierende Politik, eine aggressive, nachfragebetonte Lohnpolitik, die die unteren Schichten begünstigt und gleichzeitig den oberen noch ziemlich viel Spielraum erlaubt. Es müssen flächendeckende Tarifverträge angestrebt werden, auch Mitbestimmungsmodelle, sozialpolitische Standards.

Müßte sich gewerkschaftliche Solidarität nicht auch darin äußern, daß die „reichen“ westdeutschen Arbeitnehmer im Ost-West-Verhältnis, aber auch im Nord- Süd-Verhältnis Opfer bringen?

Das wäre wünschenswert. Aber mit einer direkten Abgabe ist das so eine Sache. Die Solidarisierung der IG Metall mit den Menschen in Osteuropa und in der Dritten Welt muß sich über die Wirtschaftspolitik, über die Tarifpolitik, nicht über einen direkten Transfer vollziehen. Das wäre vielleicht ideal und schön, aber praktisch sehe ich das nicht.

Die Konferenz steht unter dem Motto „Demokratie, Solidarität und Freiheit“. Wo hat die westdeutsche Gewerkschaftsbewegung den größten Nachholbedarf?

Bei Freiheit und Demokratie. Die Freiheit wurde von den Gewerkschaften lange Zeit als bürgerlicher Luxus gesehen. Freiheit war nur ein Schlagwort. Es wurde nicht sehr ernst genommen, als nicht ganz Reales angesehen. Es war kein greifbarer, konkreter Inhalt. Und die Demokratie wurde als etwas Gegebenes hingenommen. Die westliche, parlamentarische Demokratie wurde nicht als etwas besonders Fortschrittliches betrachtet, oft als Scheindemokratie kritisiert. Ich glaube, auch hier gibt es einen politischen Nachholbedarf.

Ist die deutsche, ist die internationale Gewerkschaftsbewegung den riesigen sozialen und politischen Problemen gewachsen?

Jein. Die IG Metall und einige starke Gewerkschaften sind dem wahrscheinlich gewachsen. Die Gewerkschaften, die aus der sozialdemokratischen Tradition kommen, die skandinavischen, die deutschen, sie sind dem eigentlich gut gewachsen. Es ist interessant, daß Gewerkschaftsbewegungen, die früher in den siebziger Jahren als radikales Modell betrachtet wurden, die italienischen, französischen, englischen, heute viel schlechter dastehen. Das größte Problem ist die konkrete Umsetzung gewerkschaftlicher Solidarität. Die zentrifugalen, partikularistischen Interessen sind doch so gravierend, daß eine Internationalisierung sehr schwer sein wird.