■ ZUHAUSE DOCH FREMD: Die Angst vor dem Fremden VON ELI WIESEL
Warum begegnet man dem Fremden mit Mißtrauen? Natürlich fasziniert mich dieses Problem – auch ich bin vertrieben worden, entwurzelt von den dunklen Mächten in der Geschichte.
Warum hält man Abstand zu ihm? Er kam ungebeten, wird man sagen, also stört er, er ist aus dem Nichts aufgetaucht, von irgendwoher, und obendrein nimmt er einem anderen den Platz, wenn nicht gar das Leben weg. Geheimnisumwoben und unübersehbar vereinzelt dringt er ein in eine Welt, die vor ihm da war und seiner nicht bedarf. Er mag Angst haben, aber man hat auch Angst vor ihm. Der Fremde macht Angst; das ist unbestreitbar.
Im allgemeinen verkörpert er in einer etablierten und halbwegs befriedeten Gesellschaft das Unbekannte, das Verbotene und Ausgegrenzte. Wer weiß, was er im Verborgenen treibt, vielleicht schmiedet er Komplotte und Intrigen, zweifellos bringt er Unglück, er sät den Zweifel und dann ist er plötzlich spurlos verschwunden. Der Fremde vertritt all das, was wir nicht sind. Der Fremde ist das andere, ein Abgesandter ferner, feindlicher Mächte. Er ist der Vagabund auf der Suche nach einer Bleibe, der großspurige Bohemien mit einem Gefolge zerlumpter Kinder, der Flüchtling, der zu Unrecht verfolgt wurde, der geschundene Narr, der hungrige Bettler; er ist der Fremde, den keiner liebt und den niemand aufnimmt, für den man weder Sympathie noch Mitleid empfindet: einer, mit dem wir uns nie und nimmer identifizieren können.
Weil er uns Angst macht, stellt der Fremde unsere eigene Rolle in der Gesellschaft in Frage. Ich muß ihn nur ansehen, um zu begreifen, daß auch ich, in den Augen eines anderen, ein Fremder sein kann. Für ihn wäre ich jemand, der ihm Angst macht. Betrachtet man die ganze Menschheit, so kann man schließen, daß wir allesamt Fremde sind. Wir alle tragen etwas in uns, das uns nicht gehört, das wir nicht enträtseln, in das wir nicht vordringen können. Weil er mir auf eine Weise ähnlich ist, erschreckt mich der Fremde. Letztlich fürchte ich ihn nur, weil ich vor mir selbst erschrecke. Wie, wenn ich der andere wäre? Die Wahrheit ist: Er gleicht mir.
Mehr noch, er zwingt mir seine Rolle auf. Daß ich ein Heim, einen Beruf und eine Familie habe, heißt nicht, daß ich weniger fremd bin als er. Wie rasch kann der Alteingesessene entwurzelt werden, von einem Augenblick zum anderen verliert der Mensch, der glücklich und zufrieden lebte, seinen Platz an der Sonne. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, weil ich einer Generation angehöre, die erlebt hat, wie alles ins Wanken gerät und wie verwundbar die Menschen sind. Von einem Tag auf den anderen, in einem schicksalhaften Augenblick, verloren die Reichen ihr Vermögen, die Honoratioren ihre Freunde und die Denker ihre Orientierung. Plötzlich waren sie aller Grundrechte beraubt. Frankreich hat seine jüdischen Mitbürger verstoßen, und Ungarn hat sie verleugnet. Plötzlich zählte nichts mehr: weder militärische Auszeichnungen noch Adelstitel oder die gesellschaftliche Stellung. Ein Dekret, ein Federstrich hatte genügt, und alteingesessene Familien, die in diesen vermeintlichen Kulturnationen seit Jahrhunderten lebten, wurden mit einem Mal behandelt wie Eindringlinge, wie Fremde.
Mit anderen Worten: Man wird sehr schnell zum Fremden – es genügt, so behandelt zu werden. Man wird ausgeschlossen, weil es Menschen gibt, die einen verstoßen. Das heißt auch, daß stets einer die Verantwortung dafür trägt, daß der andere sich nicht mehr zugehörig fühlen darf, seine Sicherheit und damit seine Identität verliert. Es ist meine Schuld, wenn der andere zum anderen wird. Von mir hängt es ab, ob sich ein Mensch zu Hause fühlt oder nicht, ob er gelassen oder verängstigt in unsere Welt blickt.
Damit sind wir beim zweiten Teil dieser Überlegungen. Wenn ich denn verantwortlich bin für das Fremdsein oder Nichtfremdsein des anderen ebenso wie für seine Freiheitsrechte, dann muß ich alles tun, um ihn nicht im Stich zu lassen – es wäre ein Vergehen gegen mich selbst. Damit unsere Beziehungen menschlich werden, muß ich in ihm meinesgleichen sehen, nicht den verdächtigen Unbekannten. Genau wie er lebe ich, und genau wie er werde ich sterben. Dieselben Bedrohungen lassen uns unruhig schlafen, unser Schrei nach Regen, nach Liebe hat den gleichen Ton. Gegen den ersten Anschein und trotz aller Unterschiede – die zahlreich sind – bleibt sich das Schicksal der Menschenwesen überall gleich. Wir machen unsere Lebensreise nach einem Plan, der unser Ermessen übersteigt. Soll ich mein Leben für bedeutender halten als das des anderen? Bin ich zu einer höheren Mission berufen?
Woher er auch kommt, der Fremde ist mir nah. Er erweckt in mir das Bild einer Welt, die sich uns darbietet, damit wir sie bewohnen, befruchten und bereichern. Und er weckt meine Erinnerung. Als Kind erwartete ich den fremden Besucher mit Ungeduld, mit Liebe. Ich erwartete ihn, um ihn zum Sprechen und mich zum Träumen zu bringen. Die Stunden, die ich damals mit Unbekannten verbrachte, werde ich nie vergessen. Manche erzählten mir Geschichten, glückliche und traurige; ich lernte dabei, daß es nur ein kleiner Schritt vom wahren Glück zur tiefsten Trauer ist. Andere sprachen von fernen Weltgegenden, von den Lehren der Weisen, von Abenteurern auf der Suche nach den letzten Gewißheiten. Ich war bezaubert und folgte in Gedanken ihren Spuren. Wie ich sie beneidete – ihr Leben war soviel interessanter als das meine. Alles hätte ich gegeben, um zu sein wie sie: frei wie der Wind und die nächtlichen Schatten. Dabei waren sie zumeist Bettler, namenlos und ohne Bleibe. Aber sie kamen von anderswo, das zog mich an.
In der jüdischen Tradition, aus der ich schöpfe, geht man davon aus, daß jeder Fremde ein Weiser sein könnte, der sich nicht zu erkennen gibt. Vielleicht gar der Prophet Elias? Oder ein Gerechter, der unerkannt eine Zeit des Exils durchleben muß? Wer ihn beleidigt, muß die Verdammung fürchten. Davon war damals meine Haltung gegenüber den Fremden bestimmt. Und heute? Heute bin ich älter. Habe ich die romantischen Vorstellungen verloren? Vielleicht ein wenig den Optimismus – heute hat meine Achtung vor dem Fremden sachlichere Gründe. Ich will ihm deutlich machen, daß er auf meine menschliche Anteilnahme vertrauen kann. Wenn er entwurzelt ist – von seiner Familie, seiner Lebenswelt, der Kultur seines Volkes, seines Landes abgeschnitten –, dann hat er Anspruch auf mich, gerade weil er keine Rechte hat. Ich verkörpere seine Hoffnung. Ihm diese Hoffnung nicht zu nehmen ist meine menschliche Pflicht.
Aus diesem Grund trete ich für eine möglichst offene und großzügige Einwanderungspolitik ein. Wer immer eine Zuflucht braucht, soll dort, wo ich lebe, willkommen sein. Wenn er bei mir ein Fremder bleibt, dann werde ich auch ein Fremder sein.
Elie Wiesel ist Überlebender von Auschwitz und Buchenwald. Nach seinem Studium an der Pariser Sorbonne wurde er Journalist. In den 50er Jahren begann er, das Erlebnis des Holocaust in Romanen und Dramen zu verarbeiten. 1986 erhielt Wiesel den Friedensnobelpreis.
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