Mohammed in der Diaspora

In der EG leben rund sechs Millionen Menschen, die aus Ländern der islamischen Welt stammen. Sie leben in sozial problematischen Wohnvierteln, angefeindet von der heimischen Bevölkerung. So wird für viele der Islam zur sinn- und identitätsstiftenden Kraft. Wie wird dieser Islam sich in den kommenden Jahrzehnten entwickeln? Wird er künftig eher europäisch, arabisch, türkisch oder afrikanisch geprägt sein?  ■ VON FELICE DASSETO

Im August 1961 läßt die Deutsche Demokratische Republik die Berliner Mauer errichten und die Grenzen mit Stacheldrahtzäunen sichern, um das Abwandern ihrer Bevölkerung in den Westen zu verhindern. Im Oktober desselben Jahres schließt die Bundesrepublik mit der Türkei ein Einwanderungsabkommen, das Hunderttausende von Türken als Arbeiter in die deutschen Fabriken bringt.

Diese Momentaufnahme macht deutlich, nach welcher Logik sich die Zuwanderung von Muslimen nach Europa vollzogen hat: In der Hochkonjunktur der „goldenen Sechziger“ hatten die reichen Länder Nordeuropas das eigene Arbeitskräftereservoir ausgeschöpft und daraufhin mit der Türkei und einer Reihe von Ländern Nordafrikas und Zentralafrikas Abkommen geschlossen, die einen geregelten Zustrom von Arbeitskräften ermöglichen sollten. Doch diese Vereinbarungen hatten weitreichende Folgen. Sie bewirkten letztlich ein Wiederaufleben der alten Konfrontation zwischen der Welt des Islam und dem Westen. Zum Teil handelte es sich nur um die Fortsetzung alter Konflikte aus der Kolonialzeit. Aber der eigentümliche Bruch in der Wirkungsgeschichte des Islams im Westen bestand darin, daß nun ein Prozeß kulturellen Wandels einsetzte, der getragen war von Menschen, die seine Bedeutung nicht begriffen und seine Folgen nicht übersahen; Menschen, die solche Auswirkungen gar nicht wünschten, Einwanderer, die, halb entwurzelt, nach neuen Orientierungen suchten: Bauern aus dem Rif und aus dem Sousse oder aus Anatolien, Menschen aus Pakistan oder Bangladesch, aus Mali, Ägypten und dem Senegal.

Ist Europa unwiderruflich Teil der islamischen Welt?

Die Migrationsbewegungen und die Geburtenrate der zugewanderten Bevölkerungsteile haben bewirkt, daß in den zwölf Ländern der Europäischen Gemeinschaft heute rund sechs Millionen Menschen leben, die in islamischen Ländern geboren und aufgewachsen oder durch ihre Erziehung dem Islam verbunden sind. Dennoch wäre es falsch, von sechs Millionen gläubigen Muslimen zu sprechen. Natürlich gehören sie alle auf die eine oder andere Weise dem islamischen Kulturkreis an, ob sie nun aus den arabischen Ländern kommen oder aus der Türkei, aus Indien oder Pakistan, aus Afrika oder aus den Balkanstaaten. Aber unter diesen „Muslimen“ gibt es große Unterschiede: Es gibt die Ungläubigen und die Gleichgültigen. Es gibt die Frommen, die den Geboten ihres Glaubens im privaten Bereich folgen. Und es gibt jene, die ihre Zugehörigkeit zur islamischen Glaubensgemeinschaft öffentlich und in religiösen Organisationen vertreten. Zweifellos besteht unter diesen Gläubigen ein Trend, sich offen und bewußt auf den Islam zu beziehen- wobei man allerdings bedenken muß, daß der öffentliche Raum gemäß islamischer Tradition eine Domäne der Männer, genauer: der Väter, ist. Der Trend wird unter anderem deutlich in der Einrichtung von Gebetsräumen und Moscheen. Seit Mitte der siebziger Jahre sind in den Staaten Europas über 2.000 solcher Einrichtungen entstanden. Auf diese Weise ist der europäische Raum symbolisch in die Welt des Islam einbezogen worden. Der Bogen der islamischen Länder, der sich in und um Europa herum vom Maghreb im Westen bis nach Bosnien-Herzegowina im Osten spannt, hat sich zum Kreis geschlossen.

Daß das abendländische Europa nun unwiderruflich in engen Beziehungen zur islamischen Welt steht, begreifen nur wenige als eine Bereicherung. Die Bevölkerungsmehrheit in Europa sieht darin ein Ärgernis und – eine Bedrohung. Politiker und Meinungsführer reagieren beunruhigt, und es scheint, als seien sie an Tatsachen weniger interessiert als daran, aus der allgemeinen Verunsicherung populistischen Nutzen zu ziehen.

Nachbarschaft mühsam – Integration unmöglich?

Kann sich Geschichte wiederholen? Wird erneut die alte These von der Eingliederungsunwilligkeit ins Feld geführt werden, mit der sich alle Migrationsbewegungen konfrontiert sahen, seit Benjamin Franklin 1753 bezweifelte, daß die deutsche Minderheit in Boston ohne Schaden für die Gemeinschaft zu integrieren sei? Früher oder später erreicht jeder Einwanderer den Punkt, an dem sich die Frage nach seinem Platz in der neuen Gesellschaft stellt. Dabei geht es um seine Rolle als Bürger im weiteren Sinne, nicht nur um die „Naturalisierung“. Gerade in Europa ist dieser soziale Prozeß aber komplex und langwierig. In der Regel umfaßt er einen Zeitraum von wenigstens drei Generationen, wobei es kaum einen Unterschied macht, nach welchem „Integrationsmodell“ er sich vollzieht. Erschwerend kommt hinzu, daß unter „Staatsbürgerschaft“ eigentlich nur ein juristischer Status verstanden wird.

Noch weiß man nicht, ob die eingewanderte Bevölkerung, die sich nun entschiedener auf den Islam bezieht, den Weg gehen wird, den frühere Immigranten gewählt haben: sich einzubürgern, indem sie sich aus der Öffentlichkeit zurückzogen und ihre kulturellen Traditionen innerhalb ihrer ethnischen Gemeinschaft und im häuslichen Kreis bewahrten. Im Augenblick scheint es, als sei die verstärkte Bezugnahme der Muslime auf ihre Religion eine Abkehr von dieser Haltung, als wollten sie sich nicht in die ethnischen Gemeinschaften zurückziehen. In einigen Ländern hat dies bereits dazu geführt, daß die heikle Balance zwischen den Ansprüchen der Religion und der bürgerlichen Öffentlichkeit gestört ist. Wie es weitergehen wird, ist offen. Anstatt Prognosen zu wagen oder Befürchtungen zu äußern, sollte man zunächst versuchen, die Situation zu analysieren. Wir haben es mit einem umfassenden sozialen Wandel in der Geschichte Europas und auch der islamischen Länder zu tun. Der nach Europa versetzte Islam ist noch jung, er hat seine endgültigen Formen noch nicht gefunden. Bislang wird er getragen von einzelnen beziehungsweise Familien, die zuerst einmal den sozialen und kulturellen Umbruch bewältigen müssen, wie ihn jede Migration mit sich bringt. Die ersten Einwanderer kamen in aller Stille. Aber seit Mitte der siebziger Jahre hat der Islam in Europa deutlichere Konturen gewonnen. In diesen Jahren fanden – aufgrund des Nachzugs von Angehörigen vieler Arbeitsemigranten – Familien wieder zusammen, wurden neue gegründet. Seit der damaligen weltweiten Rezession war an Rückkehr nicht mehr zu denken. Nun gewann der Islam an Bedeutung – nicht zuletzt, weil die Führer der muslimischen Gemeinschaften sich vom allgemeinen Aufwind der Re-Islamisierung, der auch in Europa zu spüren war, tragen lassen konnten. Vereinigungen wie die „Moslembrüder“, „Milli Gorus“, „Tabligh“ und viele andere trugen dazu ebenso bei wie staatliche und halbstaatliche Organisationen wie die „Muslimische Weltliga“, die „Islamische Weltkonferenz“ oder das „Türkische Amt für religiöse Angelegenheiten“.

In der Moschee lassen sich die Väter ihre angekratzte Autorität aufpolieren

Freilich, man darf die Entwicklung des Islams in Europa nicht ausschließlich auf Strategien dieser Institutionen zurückführen. Eigene Anstrengungen und Aktivitäten der – männlichen – Einwanderer spielten dabei die entscheidende Rolle. Gerade wenn ihnen Erfolg und Anerkennung im Einwanderungsland versagt blieben, wollten sie beweisen, daß sie zumindest dem Islam zur Verbreitung verhelfen konnten. Sie fühlten sich verpflichtet, ihren Kindern, die in einer nichtislamischen Welt aufwuchsen, die Kenntnis des Korans zu vermitteln, jenes heiligen Buches, das als Grundlage allen Wissens gilt. Gewiß keine leichte Aufgabe für die Väter, die selbst oftmals kaum lesen und schreiben können. Die Moscheen, die in diesen Krisenjahren begründet wurden, boten den Familienoberhäuptern eine Zuflucht: Hier waren sie geschützt vor den alltäglichen Feindseligkeiten und dem Verfall ihrer traditionellen Wertordnung. Hier fanden sie Rückhalt und vor allem Bestätigung ihrer Autorität, die durch Arbeitslosigkeit und durch das Selbstbewußtsein der Kinder gelitten hatte. Als besonders demütigend erlebten die Väter dabei die tatsächliche oder vermeintliche Emanzipation von Töchtern und Ehefrauen. Überall in Europa entstand ein Netz von Moscheen, Gebetsräumen und Koranschulen.

Die Moschee ist eine zentrale kulturelle und organisatorische Institution des Islams, und die Muslime können auf eine lange Tradition praktischer Erfahrung zurückgreifen, was die Schaffung von Moscheen angeht. Der Islam organisiert sich nach einem System, dessen Mechanismen sozialanthropologisch noch kaum erforscht sind. Dieses System funktioniert auch in fremder Umgebung – wie etwa in Europa – bestens. Es sind aber nicht so sehr die schon legendären Petrodollars, sondern die Spenden der Gemeinde, die den Unterhalt der Moscheen sichern. Überall wurden Moscheen begründet, in Wohnhäusern, stillgelegten Fabriken oder Lagerhäusern, wie sie in den sanierungsbedürftigen Wohnvierteln, in denen die muslimische Bevölkerung meist lebt, leicht zu finden sind. Neu erbaute Moscheen waren eher die Ausnahme, und dort, wo sie errichtet wurden, reagierte die einheimische Bevölkerung gelegentlich mit Unmut. Bis Mitte der achtziger Jahre war bereits ein umfängliches Netz von islamischen Organisationen entstanden. Die religiösen Vereinigungen verzeichneten einen höheren Mitgliederzuwachs als etwa Gewerkschaften oder kulturelle Einrichtungen. Zweifellos ist der Islam die entscheidende ordnende und mobilisierende Kraft in der muslimischen Bevölkerung. Das ruft natürlich ambitionierte islamische Führer jeder Ausrichtung auf den Plan. Und es führt auch zu Unruhe und Eifersucht bei „weltlichen“ Sozialorganisationen, denen solcher Erfolg versagt bleibt. Die islamischen Organisationen unternehmen den Versuch, die sinnstiftende Wirkung der Religion in einer urbanen Lebenswelt zu betonen und ihr so auch außerhalb der Moscheen Geltung zu verschaffen. Die Ziele sind klar: Es geht darum, die Sittengesetze bezüglich der Frauen (Schleierzwang und sonstige islamische Bekleidungsvorschriften sowie Verbot von Mischehen) durchzusetzen, den Islam öffentlich zu vertreten und ihm Zugang zu den Institutionen – vor allem Schulen- zu verschaffen.

Einwanderer werden für die Fehler der Stadtplaner vernatwortlich gemacht

Man kann diese Entwicklung nur begreifen, wenn man einen Ausblick auf die künftige Rolle des Islams in den Gesellschaften Europas wagt. Heute denkt man beim Stichwort „Islam in Europa“ bevorzugt an soziale Krisen, an die Gettos europäischer Metropolen, an Arbeitslosigkeit sowie an innen- und außenpolitische Probleme der europäischen Länder. Zunehmend werden jedoch die islamischen Gemeinschaften in Europa versuchen, sich dieser Hypothek zu entledigen und einen Platz in der Gesellschaft zu gewinnen und zu behaupten. Das ist keine leichte Aufgabe, denn der Islam in Europa ist ein städtisches Phänomen, und er wird stets mit urbanen Konflikten und Problemen in Verbindung gebracht. Die Städteplanung der sechziger und siebziger Jahre, deren Folgen man erst jetzt realisiert, hat dabei eine gewichtige Rolle gespielt. In manchen Städten konzentrierte sich die muslimische Bevölkerung in den „schlechten“ Wohngebieten, aus denen die Mittelschichten zuvor abgewandert waren, andernorts in den neugeplanten „Schlichtwohngebieten“. Dieser Prozeß der räumlichen Trennung von gesellschaftlichen Schichten wirkt sich nun zum Nachteil der muslimischen Bevölkerung aus. Man hält die Einwanderer für die Ursache der Misere. Sie werden nun auch noch – ohnehin bereits wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft und ihrer Sitten diskriminiert – für die Probleme der Großstädte verantwortlich gemacht.

Welches Gesicht wird der Islam der jungen Immigrantengeneration tragen?

Trotz aller prognostischen Versuche ist die Zukunft des Islams in Europa noch offen. Wie wird sich die Renaissance des Islams in seinen Herkunftsländern weiter entwickeln? Bedeutet der Ausgang des Golfkriegs eine Schwächung oder eine Stärkung dieser Tendenz? In welchem Maße kann sich der europäische Islam von den geistlichen Zentren der Religion emanzipieren? Wird er einen eigenständigen, „euroislamischen“ Beitrag zu den grundsätzlichen Diskussionen liefern, die überall in der islamischen Welt anstehen? Die letzte Frage mag verfrüht sein – bislang hat sich darüber noch niemand öffentlich Gedanken gemacht. Jedenfalls wird viel davon abhängen, nach welcher inneren Logik sich der „europäische Islam“ entwickeln und welche politischen Führer er in den kommenden Jahren hervorbringen wird. Heute kommen die religiösen Führer noch aus der Generation der im islamischen Herkunftsland sozialisierten Väter. Die entscheidende Frage indes bleibt: Wie wird der Islam der Söhne in zehn oder zwanzig Jahren aussehen? Wir sind heute Zeugen eines sozialen Wandels, dessen Richtung noch unbestimmt ist und der noch lange Gegenstand von Diskussionen und Spekulationen bleiben wird.

Felice Dasseto ist Conrektor an der Katholischen Universität von Louvain.