ZUHAUSE DOCH FREMD
: Wer ist ein Ausländer, wer eine Ausländerin?

13 Millionen AusländerInnen bilden den „13. Mitgliedsstaat“ der EG. Hinter dieser Zahl verbirgt sich aber nicht zuletzt eine restriktive Einbürgerungspraxis: Wer Ausländer ist, bestimmt die Politik. Umfragen zeigen: Die EG-Bürger wissen nicht, daß die meisten Ausländer in ihren Ländern ... Europäer sind.  ■ VON ANDRE LE BON

1988 lebten über 13 Millionen Menschen ständig im Gebiet der zwölf EG-Staaten, ohne die Staatsbürgerschaft für das jeweilige Gastland zu besitzen, und bildeten 4,1% der Gesamtbevölkerung (324 Millionen Einwohner). Von ihnen waren 5,1 Millionen (39%) Staatsangehörige von EG-Staaten, die aus dem einen oder anderen Nachbarland ausgewandert waren, und 8,1 Millionen (61%) stammten aus Drittländern. Die letzteren bilden den „dreizehnten Mitgliedsstaat“, kaum kleiner als Dänemark und Irland zusammen, die insgesamt 8,6 Millionen Einwohner haben.

Je nachdem, ob man das Problem aus der Sicht eines einzelnen Staates oder von der EG aus betrachtet, sieht die Höhe des Ausländeranteils völlig anders aus. Nach der üblichen Sichtweise, nach der Ausländer ist, wer nicht die Staatsbürgerschaft des Landes hat, in dem er wohnt, steht Luxemburg mit mehr als 26% Ausländern vor Belgien (8,7%), der BRD (7,7%) und Frankreich (6,75%) weit an der Spitze, erst dann kommen die Niederlande, Großbritannien, Griechenland etc. Aus der Sicht der Europäischen Gemeinschaft, die nur denjenigen als Ausländer ansieht, der aus einem Drittland kommt, wird Deutschland (5,4%) zum Hauptaufnahmeland, und zwar vor Frankreich (3,85%), Belgien (3,3%), den Niederlanden (2,95%) etc. Die deutlichste Veränderung betrifft Luxemburg, das mit kaum 2% Bevölkerungsanteil von Nicht-EG-Bürgern auf den sechsten Platz zurückfällt.

Eine wichtige Rolle bei der Bestimmung des Ausländeranteils spielt die Staatsbürgerschaft, die in jedem Land unterschiedlich leicht erworben werden kann. In Deutschland hat die Familienbindung Priorität, in Frankreich dagegen wird der Dauer des Aufenthalts eine größere Bedeutung beigemessen. Dort gibt es in der dritten Generation fast keine Ausländer mehr. Außerhalb der EG ist Schweden ein Beispiel für die Unzulänglichkeit der „Staatsbürgerschaft“ zur Beschreibung der Realität. Wenn in diesem Land am 1. Januar 1987 391.000 Ausländer lebten (davon 306.000, die im Ausland geboren waren), also 4,6% seiner Gesamtbevölkerung, so hatten auch noch 364.000 weitere Personen ihren Wohnsitz in Schweden, die zwar auch im Ausland gebürtig waren, aber bereits aufgrund einer aktiven Einbürgerungspolitik die Staatsbürgerschaft erworben hatten. In Schweden sind von 8,4 Millionen Einwohnern 670.000 Personen im Ausland gebürtig (also 8%), davon haben 306.000 lediglich eine ausländische Staatsbürgerschaft, die restlichen 364.000 sind schwedische Bürger.

Der Begriff „Ausländer“ ist nicht geeignet, die Vielfalt der Einzelfälle, die der Begriff einschließt, zu erklären. Die jungen Leute unter 25 Jahren mit ausländischer Staatsbürgerschaft stellen mindestens die Hälfte des Ausländeranteils: 50% in Belgien und in den Niederlanden, 60% in der BRD, in Frankreich und in Schweden, und noch mehr in der Schweiz. Das ergibt sich aus dem Recht zur Annahme der Staatsbürgerschaft für Kinder von Ausländern (wie es in Deutschland 1975, in Schweden 1978 und in den Niederlanden 1985 eingeführt wurde), aus dem Geburtsdatum eines Elternteils (vor oder nach 1962 im Falle von Algerien bei der Anwendung von Artikel 23 des französischen Ausländergesetzes) oder ganz einfach durch die Erreichung der Volljährigkeit (Artikel 44 des französischen Ausländergesetzes zugunsten von Kindern, die in Frankreich geboren werden und zwei ausländische Eltern haben).

Nehmen die Bürger der Aufnahmeländer die Präsenz der einzelnen Nationalitäten richtig wahr? Antwort auf diese Frage geben die Ergebnisse einer Umfrage, die 1988 bei einem repräsentativen Querschnitt von ungefähr 12.000 EG-Bürgern gemacht wurde. Die Frage lautete: „An wen denken Sie, wenn von einer Person anderer Nationalität gesprochen wird?“

Während es relativ wenig Fehler bei der Aufzählung der Nationalitäten gibt, die hauptsächlich auf dem Gebiet jedes Mitgliedsstaates leben, ist die Reihenfolge der Einstufung in den meisten Fällen unzutreffend. Daß die Europäer in elf der zwölf EG-Länder den größten Ausländeranteil bilden, ist den Bürgern von sechs EG-Ländern nicht bewußt. Für sie stehen die Türken (bei Deutschen und Niederländern), die Afrikaner (bei Italienern und Franzosen), die Asiaten (bei den Briten) oder Einwanderer aus dem Mittleren Osten (bei Dänen) an der Spitze. Die Portugiesen gehen in die umgekehrte Richtung: Sie setzen die Europäer anstelle der Afrikaner an die erste Stelle. Nur die Belgier und die Luxemburger haben eine klare Wahrnehmung ihrer Situation (was aber nicht verwunderlich ist, da bei ihnen das Übergewicht an Europäern besonders hoch ist!) und in geringerem Grade die Griechen, die Irländer und die Spanier. Die Ursachen für den Unterschied zwischen statistischer Realität und subjektiver Wahrnehnung sind vielfältig: der Anteil von illegalen Einwanderern, die statistisch nicht erfaßbar sind, aber von den Bürgern, die mit ihnen zu tun haben, intuitiv wahrgenommen werden; ein den Einheimischen „auffallendes“ soziales Verhalten – bei manchen mehr, bei anderen weniger; eine kulturelle Nähe, die dazu führt, daß man bestimmte Menschen nicht mehr als „Ausländer“ wahrnimmt, die es juristisch sind, oder im Gegenteil eine – reale oder eingebildete – kulturelle Distanz zu Gruppen von Bürgern, die gemeinsame Züge mit bestimmten Ausländern aufweisen.

Portugiesen und Franzosen haben eine radikal unterschiedliche Wahrnehmung von den Völkern, mit denen sie durch ihre Geschichte verbunden sind. Die Portugiesen „vergessen“, daß die Afrikaner (von den Kapverdischen Inseln, aus Angola, Mosambik etc.) zweimal so stark auf ihrem Boden vertreten sind wie die Europäer, die zu Leitfiguren des „Ausländers“ geworden sind, während die Franzosen dazu tendieren, die Einwanderung auf die Anwesenheit der Nordafrikaner zu reduzieren.

Im kommenden Jahrzehnt werden wahrscheinlich zwei Hauptphänomene die Migrationsbewegungen in der Europäischen Gemeinschaft charakterisieren: einerseits die bevorstehende Auswirkung der freien Mobilität innerhalb der EG, deren Vorteile die Bürger der Mitgliedsstaaten genießen werden; andererseits die Verstärkung des Migrationsdruckes aus dem Süden und dem Osten, von außerhalb der EG-Grenzen. Ob nun bewußt oder nicht, im kollektiven Vorstellungsvermögen beeinflussen diese Ereignisse das Bild des „Fremden“ oder des „Anderen“. Sie wirken auf eine Annäherung hin, die für all diejenigen von Vorteil ist, die sich innerhalb der EG befinden. Die traditionelle Spaltung in europäische Einwanderungs- und Auswanderungsländer wird sehr schnell verwischen. Dagegen besteht aber die Gefahr, daß sich das Gefühl der Andersartigkeit gegenüber Individuen aus Drittländern selbst dann verstärken wird, wenn es zu diesen Ländern geschichtliche Bindungen gibt, die älter als das „Europäische Haus“ sind.

Andre Le Bon ist technischer Berater der „Direction de la Population et des Migrations“ des Arbeits- und Sozialministeriums in Paris.