ZUHAUSE DOCH FREMD
: Fast hätte ich mein Kind auf der Brücke geboren

El Paso liegt in den USA, Ciudad Juarez in Mexiko. Zwei Welten – getrennt nur durch einen schmalen Fluß. Die Grenze wird täglich tausendfach überquert, legal und illegal. Die Mexikaner suchen Arbeit im Norden, die „Gringos“ kommen wegen billiger Ärzte und in die Stundenhotels.  ■ VON ROBERTO FABRICIO

El Paso del Norte, Texas. Es ist drei Uhr am Nachmttag. Von der Tür ihrer Wohnung, Oregon Street 812, kann Maria Concepción Robles de Villegas – oder Concha, wie ihre Familie sie nennt – zwei Städte sehen, zwei Länder, einen sumpfigen Fluß und die Brücke, die die beiden Welten ihrer schizophrenen Existenz verbindet. Und sie hat von hier einen Blick auf die Straßenecke, an der sie vor zehn Jahren beinahe ihren jüngsten Sohn geboren hätte. Sie hatte gerade die Santa-Fe-Brücke vom mexikanischen Ciudad Juarez aus überquert, damit ihr Sohn in den Vereinigten Staaten zur Welt käme. Die Wehen hatten schon eingesetzt, als sie die Brücke zwischen den beiden Ländern passierte. „Fast wäre er mir auf der Brücke geboren, ohne Staatsbürgerschaft, stellen Sie sich vor!“ sagt Concha. „Aber ich brachte ihn als Amerikaner zur Welt. Er ist in der Ambulanz geboren, weil nicht einmal genug Zeit bis zum Krankenhaus blieb.“

Heute lebt ihre Familie auf beiden Seiten des Rio Grande. Ihre Mutter, ihr ältester Sohn, Enkel, Neffen und Geschwister leben in Juarez, zehn Kilometer hinter der Santa-Fe-Brücke. Ihre Tochter, andere Enkel und ein älterer Bruder wohnen in El Paso, wenige Blocks von ihrem Haus entfernt. Ihr zehnjähriger Sohn besucht die staatliche Schule in El Paso, verbringt aber die Wochenenden bei seinen Vettern in Juarez. Sie und ihr Mann sind seit sieben Jahren geschieden. Er lebt in Chicago. „Ich hänge an beiden Seiten, ich teile mich zwischen hier und dort, weil ich von drüben komme, aber trotzdem glaube, daß mein Sohn in seinem Land studieren sollte.“ Concha Robles de Villegas ist ein Symbol für die Welt der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Es ist eine Welt der geteilten Loyalitäten, der getrennten Familien, der Subsistenzwirtschaft und der Vermischung und Verwischung von Sitten, Kulturen und Gesetzen, von denen man wie bei der Grenze selbst nicht weiß, wo Anfang und Ende sind.

Es ist vier Uhr nachmittags. Carmen und Rodriga haben soeben den Rio Grande von der mexikanischen Seite aus illegal überschritten. Der Zweck ihrer Reise ist ziemlich banal. Sie gehen in dem amerikanischen Laden J. C. Penney einkaufen, wo, wie sie sagen, die Tennisschuhe entweder billiger oder von besserer Marke sind als in den Läden von Juarez. Sie trocknen sich nun die Füße, denn sie sind an einer seichten Stelle von Stein zu Stein über den Fluß gehüpft. Wenige Meter von ihnen entfernt steht halb hinter hohen Matesträuchern verborgen ein Denkmal. Die beiden Frauen kennen es nicht, obwohl sie oft an ihm vorbeigekommen sind. Es trägt die Inschrift: „Am 4. Mai 1598 gründete Don Juan de Onate, Pionier, Generalkapitän und Gouverneur von Neu Mexiko, an dieser Stelle das Fort El Paso del Rio Norte, auf dem einzigen schneefreien Paß im felsigen Gebirgsland zwischen Atlantik und Pazifik.“ 393 Jahre nach seiner Gründung benutzen Juan de Onates Nachkommen El Paso immer noch gern als Übergang nach Norden. Dort stoßen auch Erste und Dritte Welt aufeinander, nur durch einen viertrangigen Fluß getrennt.

Es ist fünf Uhr nachmittags. Einen Block von Conchas Haus entfernt, in der Straße El Paso, fünfundzwanzig Meter vor dem Grenzübergang in die Vereinigten Staaten, liegt der Laden „Die Goldene Kugel“, wo den Kunden aus Juarez Kleidung nach Gewicht berechnet wird. Vor der Ladentür hat Javier Hernandez gerade alle Früchte verkauft, die er mittags aus Juarez mitgebracht hatte, wozu er wie jeden Tag in den letzten vier Jahren illegal über den Rio Grande gekommen war. Hernandez sagt, daß er in den vier Jahren, in denen er die Brücke wenigstens zweimal täglich überquert hat, von den Beamten der Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde ungefähr zwanzigmal verhaftet wurde. Wenn sie ihn festnehmen, wie es am Vortag geschah, führen sie ihn auf eine Wache gegenüber der Goldenen Kugel und erheben Anklage gegen ihn. Eine Viertelstunde später bringen sie ihn auf die Brückenstraße nach Süden, damit er nach Mexiko zurückgehe. Eine Viertelstunde nach seiner Ankunft in Mexiko überquert er den Fluß von neuem, um sein Fahrrad abzuholen, das seine Freundinnen im Laden für ihn aufbewahrt haben.

„In Mexiko gibt es keine Arbeit“, sagt Hernandez. „Deshalb ist die Grenze so, wie sie ist.“ Er übertreibt nicht. Die Arbeitslosenquote liegt in Mexiko bei 40 Prozent. Man rechnet, daß weitere 20 Prozent der Erwachsenen unterbeschäftigt sind. Die Bevölkerung von Mexiko wird auf 85 Millionen Einwohner veranschlagt, von denen 40 Millionen unter 18 Jahre alt sind. In El Paso sind 69 Prozent der Bevölkerung mexikanischer Abstammung.

Es ist sechs Uhr nachmittags. Acht Häuserblocks vom Nordufer des Flusses entfernt, sieht John Haddox in der Bar eines modernen Motels durch ein Fenster auf das Stadtzentrum von El Paso, auf moderne Wolkenkratzer aus Stahl und Glas, meist Banken und Hotels. Haddox, Philosoph an der Tejas-Universität in El Paso, sorgt sich um die Schizophrenie seiner Stadt, die er El Paso-Juarez nennt. „Wir sind eine Stadt in zwei Ländern“, sagt er. „Diese Spaltung ist unnatürlich, wenn man die Unterschiede und die Nähe abwägt.“

Es ist acht Uhr abends. Auf der mexikanischen Seite der Santa-Fe-Brücke, in der Verlängerung der El-Paso-Straße, liegt die Avenida Benito Juarez. Auf dieser Straße gibt es alles, was die Einwohner von El Paso in Juarez suchen. „Zahnziehen ohne Schmerz“ verheißt das Aushängeschild eines der Zahnärzte, die bei den Leuten aus El Paso sehr beliebt sind, weil sie billiger sind. Ein paar Meter weiter liegt eine Diskothek neben der anderen; dort bekommt man für einen Dollar zwei Tänze. In einer Seitenstraße befindet sich die Entbindungsklinik Jos Lopez Vega, direkt gegenüber vom Club Topless Night and Day und neben dem Hotel Lido, das sieben Dollar die Stunde kostet. Biegt man um die Ecke, stößt man auf eine etwas heruntergekommene Anwaltskanzlei, die mit großen roten Buchstaben „Scheidungen“ anpreist.

Es ist acht Uhr morgens. In seinem Hauptquartier des Grenzabschnitts von El Paso trinkt Jimmy Walker, Beamter der Grenzpatrouille, seine erste Tasse Kaffee. Der blonde und blauäugige Veteran, der siebenundzwanzig Jahre Patrouillendienst hinter sich hat, gesteht: „Ich habe mehr als die Hälfte meines Lebens einen Revolver getragen.“ Heute morgen wird er die Grenze abfahren, von dem Zaun, den die Mexikaner „Tortillavorhang“ nennen, weil er so leicht zu durchbrechen ist, bis zur Wüstenzone im Zuständigkeitsbereich der berittenen Patrouille, hinter dem Cristo-Rey-Gebirge. „Hier ist der Rio Grande acht bis neun Meter breit und weniger als einen Meter tief, aber er kann gefährlich sein, weil er die Leute, die gestürzt sind, mitreißt“, sagt Walker. „Aber als physisches Hindernis ist er kaum der Rede wert, jedes Kind kann ihn überqueren.“ Tatsächlich verhaftete die Grenzpatrouille 1990 über eine Million Menschen, die die Grenze illegal von Mexiko nach Texas überschritten hatten, und schickte sie nach Mexiko zurück.

Im Grenzabschnitt El Paso war die entsprechende Zahl 223.189. Der Sprecher der Patrouille, Doug Moisier, gibt an, daß sie nur einen von dreien erwischen. „Wenn wir 223.000 zu fassen bekommen, wissen wir, daß mindestens 400.000 andere herübergekommen sind“, fügt er hinzu. „Außerdem versuchen wir nicht, sie beim Übergang zu ergreifen, das ist unmöglich. Ein paar Häuserblocks hinter der Grenze haben wir unsere Leute postiert, die nach einem Raster die Illegalen herausfischen.“ Von denen, die durchkommen, sind weniger als 10 Prozent Einwanderer auf der Suche nach einem neuen Leben. Die überwältigende Mehrheit geht für einen Tag, eine Woche oder eine Saison über die Grenze, mit der Absicht, nach Mexiko zurückzukehren. In einer letzten März veröffentlichten Studie kommt die Rand Corporation von Kalifornien zu dem Ergebnis, daß pro Jahr etwa 135.000 Mexikaner illegal über die Grenze auswandern. Die in den USA lebende Bevölkerung mexikanischer Abkunft zählt 12,4 Millionen. Während der Fahrt mit der Patrouille wird klar, warum es unmöglich ist, die Menschen noch im Fluß oder vor Erreichen des nordamerikanischen Ufers zurückzuhalten.

Es sind buchstäblich Hunderte von Kindern, Frauen und Männern, die wie ein Sturmtrupp der Marineinfanterie fortwährend über den Fluß zu gelangen versuchen. An den seichtesten Stellen ziehen sie einfach die Schuhe aus und gehen von einem Ufer zum anderen. Anderswo können sie von Stein zu Stein bis zum anderen Ufer hüpfen. An vielen Punkten zwischen dem Zentrum von Juarez und El Paso, wo der Fluß tiefer ist, gibt es ein informelles Transportsystem von Barkassen aus Lastwagenreifen. Hier kostet die Überfahrt einen Dollar. Wenn die Mexikaner Walker sehen, lächeln sie nur. „Wie man sieht, haben diese Leute nicht viel Angst vor uns“, sagt er. In den entfernteren Gegenden dieser 3.112 km langen Grenze versucht die Grenzpatrouille nicht einmal, jeden Kilometer abzufahren. Man hat ein elektronisches Überwachungssystem installiert und fahndet mit Hilfe des Heeres und der Luftwaffe nach Drogenhändlern und anderem Gesindel, das die Wüste durchstreift. Die Grenzpatrouille verfügt über 640 Mann zur Kontrolle von 520 Grenzkilometern im Sektor El Paso, das ist ein Territorium von 205.000 Quadratkilometern. Der Beamte Walker sagt dazu: „Wir nehmen diese Arbeit nicht allzu schwer. Wir tun unser Bestes im Rahmen der vorhandenen Ressourcen und im Bewußtsein, daß Mexiko und die Vereinigten Staaten freundschaftliche Beziehungen unterhalten, die wir bewahren wollen.“