HOFFEN AUF ARBEIT
: Der wandernde Brain-Trust

Kaum jemand weiß es: Schon jetzt stellen die sogenannten „qualifizierten Durchreisenden“ aus den Industriestaaten, die für ein, zwei oder drei Jahre im Ausland arbeiten, die größte Zahl aller Aus- und Einwanderer im Norden. Zu Beginn des 21.Jahrhunderts wird Austausch und Leasing von Qualifikationen in Westeuropa noch weiter zunehmen.  ■ VON ALLAN M.FINDLAY

Wer waren die Ausländer, aus denen Saddam Hussein seinen menschlichen Schild bildete? Westliche Ausländer, die sich ängstlich in Apartmentblocks in Kuwait verborgen hielten, ausländische Kinder, die im irakischen Fernsehen vorgeführt wurden, Ausländerfrauen, die nach ihrer Heimkehr von dem dramatischen Einschnitt berichteten, den die Geiselnahme in ihr sonst so bequemes Leben gebracht hatte – mit diesen Bildern wurde Husseins Politik während der Krisenmonate 1990 der Weltöffentlichkeit nahegebracht.

Aber wer waren diese Ausländer und warum waren so viele von Saddams Invasion in Kuwait betroffen? Sie waren Ärzte, Ingenieure, Computerspezialisten, Journalisten, Buchhalter, Geschäftsleute, Manager von industriellen Joint-ventures und viele andere Spezialisten mehr. In den letzten 20 Jahren hat diese Art von Leuten in Kuwait und an vielen anderen Orten entscheidende Dienstleistungen erbracht und Produktionsfunktionen ausgefüllt. In den Fernsehbildern bot sich westlichen Zuschauern ein neues und unvertrautes Bild: westliche Wanderarbeiter, die gewaltsam nach Hause geschickt wurden (im Gegensatz zu den häufigen Berichten über die Ausweisung von Einwanderern aus der Dritten Welt, die aus dem einen oder anderen Grunde die zunehmend strengeren Einwanderungsbestimmungen Westeuropas übertreten hatten).

Aber die westlichen Wanderarbeiter, die aus Kuwait und dem Irak zurückkamen, unterschieden sich natürlich sehr von jenen, über die westeuropäische Politiker zu sprechen gewohnt sind. Viele würden sich schon mit dieser Bezeichnung nicht anfreunden können. Die politische Auseinandersetzung mit der Auswanderung aus Westeuropa erfolgte in den letzten Jahrzehnten häufig in Begriffen der ständigen Abwanderung hochqualifizierter Spezialisten, häufig nach Nordamerika, während man die Einwanderung oft als unwillkommene und bedrohliche Invasion kulturell und ethnisch verschiedener Gastarbeiter behandelte, gar als Gefahr für die nationale Identität der Gastländer. Diese Bilder sind zwar real und weitverbreitet; aber die Realität der Wanderungsprozesse in die meisten Länder Westeuropas und zwischen ihnen war Anfang der neunziger Jahre eine ganz andere, und nur in unerwarteten Augenblicken wie der Golfkrise werden die Bilderproduzenten mit Hinweisen auf die Realität konfrontiert.

Nach Großbritannien wandern an erster Stelle Briten, Japaner und Amerikaner ein

Nehmen wir Großbritannien als Beispiel. Die meisten Einwanderer sind hier amerikanische, japanische und britische Bürger. In den achtziger Jahren zeigen die offiziellen Statistiken über einwandernde Arbeitskräfte (gemessen an der Erteilung langfristiger Arbeitsgenehmigungen) recht deutlich, daß bei weitem die größte Zahl ausländischer Arbeitsimmigranten aus den USA oder Japan kam und nicht aus den Ländern des britischen Commonwealth. Darüber hinaus waren etwa 60 Prozent derjenigen, die Mitte der Achtziger eine langfristige Arbeitsgenehmigung erhielten, von ihren Firmen nach Großbritannien entsandt worden. Meistens handelte es sich um hochspezialisiertes Personal für Produktion und Management. Großbritannien bildet in Westeuropa eine Ausnahme, weil es – durch ständige Stichproben an Flughäfen und Häfen – sämtliche Bevölkerungsbewegungen in und aus dem Land erfaßt.

Diese Statistik des internationalen Passagierverkehrs zeigt eine zweite interessante Eigenheit der heutigen Wanderungsbewegungen: Die meisten Einwanderer nach Großbritannien sind nämlich Briten! Das ist nicht nur eine Frage der Definition. Für die Statistik gelten alle Menschen, die länger als ein Jahr im Ausland lebten und nach Großbritannien einreisen, als Einwanderer. Auf dieser Grundlage sind weitaus die meisten Einwanderer britischer Herkunft. Wer sind diese Menschen? Die Statistik zeigt, daß es sich in den achtziger Jahren im Regelfalle um hochqualifizierte Menschen handelte, die für relativ kurze Zeiträume außerhalb Großbritanniens gelebt und gearbeitet hatten – ein, zwei oder vielleicht drei Jahre. Wissenschaftler bezeichnen sie inzwischen als „qualifizierte Durchreisende“, denn weder ähneln sie den Siedleremigranten, die Westeuropa verließen, um sich auf Dauer in den Kolonien niederzulassen, noch den Wellen der Gastarbeiter aus dem Süden und Osten des Mittelmeerraums, denen Westeuropa seit Anfang der siebziger Jahre so energisch Einhalt zu gebieten suchte.

Von Politikern und Wissenschaftlern kaum wahrgenommen

Qualifizierte Durchreisende – wie jene, die Saddams Invasion in Kuwait überraschte – sind zur vorherrschenden Erscheinungsform der britischen Ein- und Auswanderung geworden, aber weil sich die Wanderungsbewegung dieser Kategorien von der Vergangenheit unterscheidet und – wichtiger noch – die einzelnen Individuen sich weder ihrer Absicht nach noch in der Praxis auf die Dauer in anderen Ländern niederlassen, werden sie von Politikern und Wissenschaftlern kaum wahrgenommen. Untersuchungen haben gezeigt, daß dieses Bild ebenso für die qualifizierte Ein- oder Auswanderung in Japan oder anderen fortgeschrittenen Industrienationen gilt. Qualifikationsaustausch statt Qualifikationsabfluß: Wie läßt sich der neue internationale Strom der Qualifikationen erklären?

Die meisten sind bei multinationalen Firmen beschäftigt

Obwohl die Forschung über die „qualifizierten Durchreisenden“ noch in den Kinderschuhen steckt, wird bereits jetzt deutlich, daß es mehrere verschiedene Typen auftretender Qualifikationswanderungen gibt. Beim Institut für angewandte Bevölkerungsforschung der Universität Glasgow wurden seit 1985 umfangreiche Fragebogenerhebungen über „qualifizierte Durchreisende“ angestellt. Sie zeigen, daß sie sich nicht gleichmäßig aus allen Schichten der Bevölkerung oder allen Teilen des Landes rekrutieren. Besonders deutlich zeigte sich, daß Firmen nur sehr wenig Frauen aufgrund ihrer Qualifikationen ins Ausland entsenden. Ebenso auffallend ist das geographische Ungleichgewicht: Es zeigte sich eine sehr starke Konzentration der qualifizierten Auswanderer in der Region der Hauptstadt. Dies könnte auf den ersten Blick als Überraschung gelten, da einige Wanderungstheorien die stärkste Auswanderung aus Gebieten mit niedrigem Lohnniveau und hoher Arbeitslosigkeit erwarten würden.

Da dies bei der qualifizierten Auswanderung nicht der Fall ist, kann das Muster nicht von der Nachfrage nach Auswanderungsmöglichkeiten bestimmt sein, sondern nur von jenen, die den Zugang zur Auswanderung kontrollieren. Die wichtigste Erklärung für diese Erscheinung liegt in der Zunahme der Zahl der Firmen, deren Tätigkeit internationalen Umfang angenommen hat. Die Existenz von Niederlassungen dieser multinationalen Firmen in verschiedenen Ländern macht den internationalen Personalfluß notwendig, um die internationalen Produktionssysteme der Firmen zu verwalten und zu betreiben. Die meisten multinationalen Firmen haben ihr Produktionssystem so organisiert, daß Forschung und Entwicklung ihrer Produkte hauptsächlich in einem Lande erfolgt, gewöhnlich im Ursprungsland der Firma, während die niedrigen Lohnkosten in anderen Teilen der Welt und besonders in der Dritten Welt die Auslagerung der Produktionsfunktionen zur Folge hatten.

Manager zirkulieren zwischen Zentrale und Niederlassungen

Die Multis machen ihren Managern daher zunehmend zur Auflage, zwischen dem Zentralbüro und ausländischen Niederlassungen zu zirkulieren, um die Firmenidentität zu stärken und sicherzustellen, daß die Beziehungen innerhalb der Firma leistungsfähig bleiben; das technische Personal aus den Forschungsabteilungen dieser Firmen hat seinerseits die internationale Wanderung als wesentlich entdeckt für den Transfer von Technologie in die neuen Industrieländer, in denen ihre Firmen den größten Teil ihrer Produkte herstellen. Auch die höheren Ränge der Bereiche Buchführung und Dienstleistungen sind auf die Zirkulation angewiesen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist daher der komplexe Qualifikationsaustausch zwischen den Ländern.

Die zunehmende Integration der industriellen und Dienstleistungstätigkeiten in die Weltökonomie hat zur Folge, daß industriell fortgeschrittene Nationen in diesem Prozeß Qualifikationen sowohl abgeben als empfangen, wobei der Austauch zwischen den Ländern mit den meisten multinationalen Organisationen, wie den USA, Japan und den Staaten Westeuropas, unvermeidlich den größten Umfang annimmt. Die weniger entwickelten Länder sind ebenfalls beteiligt; sie nehmen qualifizierte Einwanderer aus dem Westen auf, um die Niederlassungen der multinationalen Firmen auf ihrem Boden zu betreiben. Der Austausch ist in den meisten Fällen jedoch nicht zweiseitig, weil ihre eigenen Angestellten die höheren Ränge dieser Firmen nur selten erreichen und nur verhältnismäßig wenige multinationale Firmen ihren Sitz in den weniger entwickelten Ländern haben.

Wer in den Nahen Osten muß, bekommt kostenlose Unterbringung und kräftige Zulagen

Auswanderer suchen hohe Gehälter, Reisemöglichkeiten und Karriereaussichten. „Qualifizierte Durchreisende“ haben selbstverständlich eigene Motive, um sich auf die kurzfristige Entsendung ins Ausland einzulassen. Sie wollen sich natürlich nicht alle zwei oder drei Jahre entwurzeln und neu ansiedeln lassen, ohne dafür entschädigt zu werden. Die Untersuchungen im Institut für angewandte Bevölkerungsforschung zeigen, daß nicht nur die hohen Gehälter von Bedeutung sind, sondern auch die Aufstiegschancen sowie der Wunsch, zu reisen und breitere Erfahrungen zu sammeln. Für unbeliebte, kulturell fremde und weit entfernte Ziele müssen die multinationalen Firmen besondere Leistungen bieten, um ihre Angestellten zum Umzug zu bewegen, wie höhere Aufwandsentschädigungen oder kostenlose Unterbringung. Insbesondere in den Nahen Osten gingen amerikanische Auswanderer nicht sehr gern; dort sehen etwa fünfzig Prozent der Verträge kostenlose oder hochsubventionierte Unterbringung vor.

Nicht alle „qualifizierten Durchreisenden“ sind Angestellte multinationaler Firmen. Entwicklungsländer haben häufig Qualifikationen „importiert“, um ihre Entwicklung zu beschleunigen. Die reichen Ölstaaten in den siebziger und achtziger Jahren boten dafür ein besonders gutes Beispiel. Wenn diese Länder Flughäfen bauen, Krankenhäuser betreiben und technologisch fortgeschrittene Rüstungsgüter importieren wollten, wandten sie sich wegen Qualifikationen und Ausrüstung an den Westen. Diese Qualifikationen wurden weitgehend von internationalen Personalagenturen geliefert oder von westlichen Firmen, die aufgefordert wurden, feste Verträge abzuschließen, um ein bestimmtes Entwicklungsziel zu erreichen.

Die Durchreisenden nehmen ihr Wissen aus dem Süden wieder mit

Im Ergebnis zeigte sich wiederum, daß westliche „qualifizierte Durchreisenden“ nur für sehr kurze Zeiträume in diese Länder kamen. Viele bezweifeln, ob dieser Prozeß diesen Entwicklungsländern auf die Dauer überhaupt einen Nutzen gebracht hat, da nach Vertragsende die qualifizierten Durchgangsarbeiter häufig heimkehren, sobald sie ihre begrenzten Verpflichtungen erfült haben, ohne daß jedoch von einer Übertragung von Qualifikationen an die einheimische Bevölkerung die Rede sein könnte. Einzelne Stimmen bezweifeln daher, ob der vorübergehende Einsatz internationaler Qualifikationen überhaupt der schnellen Entwicklung diene; auf die Dauer könnte er unter Umständen schlicht zur weiteren Unterentwicklung dieser Staaten beitragen. Ein Beispiel: Kann Kuwait, nachdem es in den letzten 20 Jahren riesige Summen für ausländisches Personal ausgab, den Wiederaufbau nach dem Krieg aus eigener Kraft schaffen, oder wird es wie in den siebziger und achtziger Jahren ausländische Experten heranziehen müssen, um einen modernen „kuwaitischen“ Staat wiederaufzubauen?

Allan M. Findlay arbeitet am Fachbereich Geographie der Universität Glasgow.