Wiedergutmachen: Die Grenzen öffnen

■ Für Günter Wallraff hat sein Buch "Ganz unten" in Deutschland zwar bewirkt, daß illegale Leiharbeit jetzt als Menschenhandel angesehen wird. Ansonsten aber prägen neue Ausländerfeindlichkeit und

*DOFFEN AUF ARBEIT

Wiedergutmachen: Die Grenzen öffnen Für Günter Wallraff hat sein Buch „Ganz unten“ in Deutschland zwar bewirkt, daß illegale Leiharbeit jetzt als Menschenhandel angesehen wird. Ansonsten aber prägen neue Ausländerfeindlichkeit und unterbezahlte Jobs für die Armutsflüchtlinge aus Osteuropa das Bild der Nation. Ein Gespräch von Walter Jakobs mit GÜNTER WALLRAFF

taz: Herr Wallraff, Sie sind bei Ihren Recherchen für ihr letztes Buch „Ganz unten“ in die Rolle eines türkischen Kurden geschlüpft. Haben Sie während ihrer Arbeit als „Ali“ irgendwann Identitätsprobleme bekommen? Wußten Sie nicht mehr, wer Sie waren?

Wallraff: Die Frage muß man anders stellen. Ich wußte eigentlich früher nie, wer ich wirklich bin und habe durch meine ständigen Rollenwechsel überhaupt erst eine Identität erworben. Ich glaube, daß mein literarischer Arbeitsstil unmittelbar auf einer extremen Ich-Schwäche basiert. Traumatische Situationen – etwa im Kinderheim – haben meine frühe Kindheit geprägt. Ich war vor dem Schreiben total introvertiert, fast autistisch und bin wahrscheinlich erst durch das Rollenspiel und die Rechenschaftsberichte darüber zu einem sozialen Wesen geworden. Aus dem Mangel heraus habe ich eine Arbeitsweise entwickelt, die zu einer Möglichkeit des Überlebens wurde.

Dennoch war ich nur in extremen Ausnahmesituationen wirklich identisch mit der Rolle eines Türken – etwa in ganz entsetzlichen Arbeitssituationen beim Stahlkonzern Thyssen. Da stand ich angesichts des Gesundheitsrisikos – ich hatte danach jahrelang Probleme mit den Bronchien – schon mal vor der Entscheidung aufzuhören. Ich habe weitergemacht, weil ein Abbruch mir auch wie ein Verrat an den Kollegen und an der Sache erschienen wäre. In solchen Situationen kommt bei mir ein Punkt, wo ich auch kein Risiko scheue. Man kann es vielleicht Fanatismus oder Obsession nennen. Abgesehen davon hatte ich immer wieder Fluchtmöglichkeiten, Privilegien. Darum habe ich das Buch im Arbeitstitel ja auch Annäherungen an Ali genannt und im Text immer wieder die gebrochene Form des „Ich (Ali)“ verwandt.

Ihr Buch hat allein in Deutschland eine Auflage von 3,2 Millionen Exemplaren erreicht. In 32 Ländern sind Übersetzungen erschienen. Sie hatten schon bald nach dem Erscheinungstermin den Eindruck, ein wenig zu einer Verhaltensänderung zwischen Deutschen und Ausländern beigetragen zu haben. Was ist von diesem Eindruck geblieben?

Von Fall zu Fall hat es einen neuen Umgang, auch lange nachwirkend, gegeben. Strukturelle Veränderungen blieben aber aus. Es gibt eine neue Ausländerfeindlichkeit, gerade im Osten Deutschlands.

Ihnen ist vorgeworfen worden, durch Überzeichnen der Situation Aussichts- und Hoffnungslosigkeit Vorschub geleistet zu haben.

Man kann eine ausweglose Situation – und so stellen sich die Verhältnisse im Bereich der illegalen Leiharbeit dar – nicht durch ein Buch verändern. Wenn ich ein Buch schreibe, kann ich von vornherein nicht voraussetzen, daß es Realität verändert; das ist dann ein Geschenk dazu. In vielen Fällen meiner Arbeit hat das stattgefunden, konnte die Situation punktuell und von einzelnen Menschen verbessert werden. Es haben auch etliche türkische Arbeiter im Verlauf der Diskussion um das Buch neuen Mut gefaßt, ihre eigenen erbärmlichen Arbeitsbedingungen anzusprechen und erstmals Forderungen zu stellen. Es hat eine neue Bewertung der illegalen Leiharbeit gegeben. Man spricht seither nicht mehr beschönigend und die Opfer diskriminierend von „Schwarzarbeit“, sondern, die Täter denunzierend, von modernem „Menschenhandel“.

Millionen von Ausländern arbeiten unter wesentlich besseren als den im Buch beschriebenen Bedingungen. Für die meisten gelten die normalen Tarifverträge. Verbreiten Sie international nicht ein häßliches, wirklichkeitsfremdes Bild vom Leben in Deutschland?

Es sind sicher extreme Fälle dargestellt, an denen sich ein Land, das sich demokratisch nennt, aber auch messen lassen muß. Der Manchesterkapitalismus, also die extreme Ausnutzung der menschlichen Not, die Beschäftigung gerade der neuen Armutsflüchtlinge aus dem gesamtem osteuropäischen Raum in völlig ungesicherten, unterbezahlten Jobs, weitet sich in diesen Tagen in Deutschland ernorm aus.

Im übrigen hat das Buch auch im Ausland zu der Frage geführt, wie sieht es denn in unserem Land in diesem Bereich der Gesellschaft aus. In Frankreich wurde von meinem Verlag ein Nachfolgebuch unter dem Titel tete de turc en france angeregt, in dem französische Kollegen die Zustände in Frankreich untersuchen und zu ähnlichen Resultaten kommen. Auch in Holland sind Autoren dem Problem im eigenen Land nachgegangen. Dabei hat sich – ebenso wie in Dänemark – herausgestellt, daß die Situation von Ausländern im Arbeitsleben in diesen Ländern längst nicht so mies ist wie in Deutschland und Frankreich. Das Buch wird im Ausland nicht als Exotik nach dem Motto: Seht mal die schrecklichen deutschen Zustände, gesehen, sondern man reflektiert sehr schnell die eigene Situation, faßt sich an die eigene Nase und sieht, wo es bei einem selbst stinkt. Fremdenfeindlichkeit findet sich sicher in jedem Land, aber es gibt graduelle Unterschiede. In den skandinavischen Ländern stellt sich die Situation in jedem Fall für Ausländer erträglicher, liberaler dar.

Die Wanderungsbewegungen von Ost nach West, von Süd nach Nord werden zunehmen. Welche Rolle sollte Deutschland hier spielen?

Dieses Land hätte die Chance, mal dazuzulernen. Zunächst geht es darum, einzugestehen, daß wir längst ein Einwanderungsland sind. Wir sind es und wir haben es so gewollt, denn wir haben die Ausländer als Arbeitskräfte am Anfang regelrecht angeworben. Unser relativer Wohlstand beruht auch auf deren Arbeitsleistungen. Jetzt geht es darum, die Grenzen nicht abzuriegeln, nicht dichtzumachen, sondern zu öffnen und damit auch etwas Wiedergutmachung zu leisten.

Ein dichtbesiedeltes Land wie Deutschland kann nicht alle Armutsflüchtlinge, die an der Grenze anklopfen, aufnehmen.

Sicher geht das nicht, aber man kann eine Ouotenregelung einführen und man kann jene aufnehmen, die auf eine Wiedergutmachung Anspruch haben. Ich sehe es als ungeheuren Skandal an, sich gegenüber Sinti und Roma, die von den Nazis zu Hunderttausenden ermordet worden sind, dermaßen fremdenfeindlich zu verhalten. Dort haben wir eine historische Schuld abzutragen. Da hat dieses Land nichts dazugelernt.

Spielt das Buch, fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung, in Ihrem Leben noch eine besondere Rolle?

Die Normalität hat sich wieder eingestellt. In der ersten Zeit wurde ich total in Anspruch genommen. Es standen nachts Betroffene vor der Tür und baten um Hilfe. Ich habe dann einen Rechtshilfefonds gegründet, Anwälte gestellt und fühlte mich dennoch permanent überfordert, wurde vom schlechten Gewissen geplagt, denn ich konnte längst nicht alle an mich herangetragenen Wünsche und Erwartungen erfüllen.

Sie haben 1985 versprochen, einen Teil ihres Honorars an diejenigen zurückzugeben, die unter den Verhältnissen besonders leiden. Diese Ankündigung ist von einigen in Deutschland als leeres Versprechen denunziert worden. Sie haben u.a. über eine Stiftung ein Wohn- und Kommunikationsprojekt in Duisburg initiiert. Hat es den Honorartransfer gegeben?

Wenn man alles zusammenzählt, dann habe ich bisher über zwei Millionen DM Hilfe geleistet.

Ihr Engagement in der Duisburger Siedlung ist anfangs bei einigen deutschen Bewohnern auf Ablehnung gestoßen, aus Angst, verdrängt zu werden. Was ist daraus geworden?

Die Anfangsschwierigkeiten sind längst überwunden. Das Kommunikationszentrum arbeitet sehr erfolgreich – nicht zuletzt durch die Initiative und das Engagement der türkischen Sozialarbeiterin Semra Arslan. Das Zusammenleben zwischen den verschiedenen Nationalitäten hat sich verbessert. Die anfänglich erheblichen Ängste haben sich größtenteils aufgelöst.

Günter Wallraff ist Journalist. Bekannt machte ihn seine Recherchetechnik, aus der Beobachterrolle in die des Betroffenen zu schlüpfen.