HOFFEN AUF ARBEIT
: Reiche Länder brauchen Gepäckträger

Es gibt keine „neuen Welten“ mehr zu erobern, die Grenzen sind dicht, die Staaten kontrollieren die Einreise. Wenn dann Europas expandierende Wirtschaft neue Arbeitskräfte braucht, wird sie Gastarbeiter für zeitlich begrenzte Arbeitsverträge suchen.  ■ VON ROBIN COHEN

Neoklassische Ökonomen stützen sich bei ihren Erklärungen für internationale Migrationsbewegungen auf die Gesetze von Angebot und Nachfrage. Auf das Problem der Bevölkerungsdichte angewendet, müßten danach überfüllte Gebiete leerer werden und leere voller. Auf Beschäftigungsprobleme angewendet, müßten die Arbeiter Gebiete verlassen, in denen Arbeit knapp ist und in Gebiete abwandern, in denen sie reichlich vorhanden ist.

Dieses Erklärungsmuster ist jedoch undifferenziert und unzureichend. Erstens schalten sich bei jeder internationalen Migration die Länder, die Arbeitskraft importieren, und manchmal auch solche, die sie exportieren, als entscheidende Hindernisse für den freien Fluß der Arbeitskraft ein. Bis zu diesem Jahr, in dem die Sowjetunion ein Gesetz zur freien Ausreise verabschieden wird, haben Reisebeschränkungen die Sowjetbürger entscheidend daran gehindert, sich weltweit auf die Arbeitssuche zu begeben. Und nicht nur totalitäre Staaten waren über die Abwanderung von Arbeitskräften besorgt. Sowohl Griechenland wie auch Indien haben sich bemüht, die freie Auswanderung von wertvollen Facharbeitern und anderen qualifizierten Arbeitskräften zu verhindern.

Diese Beispiele werden allerdings bald nur noch historische Bedeutung haben: Die staatlichen Eingriffe haben heute eher das Ziel, die Einreise als die Ausreise zu verhindern oder zu steuern. Aus der Sicht der Migranten in aller Welt ist in dieser Hinsicht die letzte Grenze bereits überschritten. Es gibt keine „neuen Welten“ mehr zu erobern. Bevölkerungsarme, bewohnbare Länder – Kanada, Australien, sogar das Innere Brasiliens – sie alle sind von dem besetzt worden, was wir „Zivilisation“ nennen. Es gibt keinen Platz mehr für Abenteurer und Trekker, die der Staatsgewalt durch einen Grenzübertritt entkommen könnten: Statt dessen werden die Randgebiete von Arbeitssuchenden und Flüchtlingen bewohnt, die mitleiderregend auf Einlaß in jene vergoldeten Käfige warten, von denen die Staatsbürger mit ihren Privilegien in der Welt beschützt werden.

Die USA sind noch stark und aufnahmebereit genug für die Arbeitskraft der Besitzlosen der Welt, so daß sie eine gewisse Migration nach innen zulassen können. In einigen anderen Ländern – Kanada, Deutschland und Frankreich – gelingt es der demographischen Lobby, darauf zu bestehen, daß die gegenwärtigen Einreisebeschränkungen für Immigranten, Flüchtlinge und Asylsuchende gelockert werden, um damit der Alterspyramide in der demographischen Entwicklung ihrer eigenen Bevölkerung entgegenzusteuern. Aber sogar in Deutschland und Frankreich, wo es eine starke politische Strömung gibt, die sich dafür einsetzt, Bevölkerungsgruppen aus einer Ethnie bzw. mit einer gemeinsamen Sprache wieder zu vereinigen, entsteht gegenüber diesen Versuchen in zunehmendem Maße Fremdenfeindlichkeit. Ausländerfeindliche Einstellungen kommen oft auf kultureller oder religiöser Ebene (zum Beispiel gegenüber Moslems) zum Ausdruck, aber die Grundlage solcher Ansichten ist materialistisch – der Wunsch nach einem exklusiven Zugang zu Arbeitsplätzen, Wohnungen und Sozialleistungen für die Alteingesessenen.

Für Mainstream-Politiker im vergoldeten Käfig des Europa von 1992 ist die Frage nicht mehr, „ob wir sie draußen lassen sollen“, sondern „wie“? Die Hauptrichtung der Politik ist die der Abkommen von Schengen und Trevi – die innerhalb Europas nach dem 31. Dezember 1992 zu Freizügigkeit und nach außen zu einer streng überwachten Grenze führen. Aber dafür findet sich weniger Zustimmung, als die Politiker vorgeben. Die Briten bleiben, trotz der symbolischen Verbindung mit dem Kontinent durch den Kanaltunnel, insular wie eh und je. Können sie sich darauf verlassen, daß die Deutschen die Ostgrenze kontrollieren – oder gar darauf, daß die Spanier und Italiener die „Bedrohung“ aus Nord- und Westafrika abwehren? Sogar solche Länder mit starken internationalistischen und sozialdemokratischen Traditionen wie Dänemark und die Niederlande werden von diesem Abwehrdenken erfaßt. Die Regierungen dieser Länder behaupten, daß die Leute, die dort an den Grenzen ankommen, keine Flüchtlinge, sondern nur Wirtschaftsemigranten sind.

Diese Position beruht auf ideologischen Widersprüchen, die vielleicht in Großbritannien am offensichtlichsten sind. In der Blütezeit des Thatcherismus wurde Arbeitslosen geraten, nicht auf Hilfe von der Regierung zu warten, sondern, wie es der frühere Vorsitzende der Konservativen ausdrückte, sich besser „auf die Socken zu machen“, also weit herumzureisen, um sich Arbeit zu suchen. Diese Aktivität wurde aber offenbar verwerflich, als Nicht-Europäer den Rat befolgten.

Natürlich weiß man, daß die Definition eines erwünschten Migranten eine Sache der politischen Zweckmäßigkeit ist. Die politischen Flüchtlinge aus den Ländern hinter dem früheren Eisernen Vorhang sind plötzlich, mit Glasnost, „nur noch“ Wirtschaftsemigranten. Aber selbst wenn Deutschland stark genug ist, deutschstämmige Menschen aus dem Osten im größer gewordenen Deutschland unterzubringen, wird gegenüber anderen Gruppen aus den alten kommunistischen Regimen eine solche Toleranz nicht sichtbar. Das zeigt sich auch an den Österreichern, die bei ihrem Bemühen um Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft ihre Referenzen vorlegen müssen. Sie sollen ihre Bürgerarmee in eine massive Grenztruppe verwandeln – und damit in Wirklichkeit die Berliner Mauer an eine andere „undichte Stelle“ versetzen. Tatsächlich ist es äußerst zweifelhaft, ob die expandierende Wirtschaft Europas im nächsten Jahrhundert imstande sein wird, nur mit den augenblicklich vorhandenen Arbeitskräften auszukommen. Das Raster der Zukunft ist jedenfalls schon in Umrissen erkennbar. Gegen eine langfristige und ständige Migration wird es – trotz des zunehmenden Drucks der Ost-West- Migration – aus kulturellen und politischen Gründen heftigen Widerstand geben.

Es zeichnen sich verschiedene mögliche Lösungen ab. Die erste ist, die Grenze langsam nach Osten zu verschieben – zunächst nach Österreich, dann vielleicht nach Jugoslawien, Ungarn, Albanien, in die Tschechoslowakei und nach Polen – weil neue Arbeitskolonnen gebraucht werden, um die Wirtschaft der westlichen Länder in Gang zu halten. Das erlaubt der Europäischen Gemeinschaft freie Migration im Innern, während das politische Problem, die Außengrenzen zu kontrollieren, an andere delegiert wird. Die Bürokraten in Brüssel wären von der schmutzigen Arbeit befreit, illegale Einwanderer zusammenzutreiben, zu verhören und zu deportieren.

Zweitens wird es bilaterale Vereinbarungen zwischen Regierungen geben, um den zeitlich begrenzten Einsatz von Arbeitskräften zu regeln. Ein Prototyp dafür ist das deutsche System der Gastarbeiter; es müßte allerdings ein besseres Image für diese vertraglich begrenzten Arbeitsplätze geben – bessere Ausbildung, großzügigere Rückkehrregelungen, bessere Wohnungen und Lebensbedingungen in den „Gastländern“ und mehr Beachtung von Problemen wie Sprache, Bürgerrechte, Familienzusammenführung.

Europas Grenze wird nach Osten verschoben

Schließlich besteht für die Unternehmer immer die Möglichkeit, mit den Arbeitsplätzen zu den Arbeitskräften zu gehen, statt umgekehrt. Diese Lösung wird wahrscheinlich dadurch eingeschränkt, daß die größte Nachfrage im Dienstleistungssektor entstehen wird. (Die Erfahrungen der Vereinigten Staaten in den letzten fünfzehn Jahren deuten darauf hin.) Reiche Länder brauchen Taxifahrer, Gepäckträger und Kellner, Straßenkehrer und Fast-Food-Verkäufer. Für solche Dienstleistungen müssen Arbeitskräfte importiert werden. Andererseits kann, wie der Erfolg der neuen Industrieländer im Fernen Osten wie Hongkong, Singapur, Korea und Taiwan gezeigt hat, ein wachsender Anteil an Konsumgütern mit lokalen Arbeitskräften günstig produziert werden. Malaysia exportiert jetzt ein äußerst konkurrenzfähiges Auto. Der alte kommunistische Osten wird wahrscheinlich ein wichtiger neuer Standort für das asiatische Modell – wenn neue Ziele gesetzt werden und die Aussicht auf Arbeitslosigkeit und möglicherweise Hunger die Arbeitskräfte diszipliniert.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird verstärkt der Wunsch nach Migration aus der Dritten Welt und den ehemals kommunistischen Ländern entstehen. Gleichzeitig wird es einen wachsenden Widerstand gegen den freien Fluß von Arbeitskraft geben – teilweise mit Ausnahme der USA und Kanadas . Diese ideologischen und politischen Einschränkungen bei der Einreise ausländischer Arbeiter werden zu einer Reihe von miteinander verbundenen Lösungen führen, von denen keine dominieren wird. Eine allmähliche Ausweitung des Radius, ein neues System von zeitlich begrenzten Arbeitsverträgen und Kapitalexport: Das sind die naheliegendsten Lösungen für den beschränkten Markt des Imports von Arbeitskräften. Das sind Möglichkeiten, mit denen man umgehen kann, die aber moralisch nicht unbedingt angenehm sind.

Robin Cohen ist Soziologieprofessor an der Universität von Warwick und leitete dort von 1984 bis 1989 das „Centre for Research in Ethnic Relations“.