HOFFEN AUF ARBEIT
: Algeciras – Hafen der Hoffnung

Jeden Sommer kommen mehr als eine halbe Million Nordafrikaner über die Straße von Gibraltar in den südspanischen Hafen Algeciras. Die Armut des Maghreb treibt sie auf Arbeitssuche nach Europa. Für viele ist Algeciras jedoch zugleich Endstation.  ■ VON RAFAEL FRAGUAS

Regentropfen fallen auf die Gesichter. Eine Salzkruste bedeckt die Lippen. Die Arme stützen sich auf ein überdachtes Geländer aus Metall und Holz; tausend dunkle Augenpaare schauen zur spanischen Küste vor Gibraltar hinüber. Ein Schauder durchläuft Hamdane, einen von Hunderttausenden Auswanderern aus dem Maghreb (Tunesien, Nordalgerien und Marokko), die über den spanischen Hafen Algeciras nach Europa kommen.

Eine Tasche in jeder Hand, geht Hamdane jetzt auf die Grenze zu. Seine Schritte hallen auf dem Holzsteg wider. Endlich ist er in Algeciras, auf arabisch „Grüne Insel“. Hamdane geht entschlossen weiter. Er hat die Glashäuschen der Grenze passiert; ein frischer Luftzug empfängt ihn, als er die Straße zum Hafen betritt. Im Gehen betrachtet er die Reihe grüner Stände zu seiner Rechten, die das örtliche Rote Kreuz zur Betreuung der Einwanderer aus dem Maghreb errichtet hat; im Sommer kommen mehr als eine halbe Million Menschen über die Straße von Gibraltar herüber.

Dem Auge des Reisenden zeigt sich Algeciras mit seiner Hafenpromenade voller Häuser, hoher Bäume und Arkaden, auf der Gruppen von Hamdanes Landsleuten schlendern, aus denen vertraute nasale Laute aufsteigen. Sie sind schon länger da und kennen sich besser aus. Die Verkaufsstellen für Schiffspassagen zeigen ihre Leuchtreklamen auf spanisch und arabisch an, zwischen kleinen Geschäften mit allerlei Zierrat, Lederkleidung, marokkanischem Kunsthandwerk oder gewagten, schwarzen Miniröcken.

Durch die engen, von Lastwagen durchpflügten Gassen führen ein paar Bahngleise zum Hafen. Als die Nacht hereinbricht, bieten dort spärlich bekleidete Frauen mit schwarzem Kraushaar ein paar Minuten Gefühl für fünf Dollar an. In der Dämmerung macht die weiche Droge Marihuana, hier noch Grifa genannt, bisweilen am Hafen die Runde. „Achtzig von hundert Strafsachen, die vor dem Amtsgericht von Algeciras verhandelt werden, haben mit Drogenhandel zu tun“, weiß der Richter Joaquin Delgado zu berichten.

Marokkanische Restaurants verströmen den Duft von Couscous und Lammfleisch, das zwischen dampfenden Teekesseln und glänzenden Samowaren aus Messing vorzüglich zubereitet wird. Die arabischen Gäste rauchen hier voller Gelassenheit beim Gespräch unter Freunden oder bei der immerwährenden Erinnerung ans andere Ufer der Straße von Gibraltar. Es ist die Stunde des Heimwehs.

Jetzt erwartet Hamdane etwas Schwierigeres als der Grenzübertritt in Algeciras: Er muß den Bus nach Valencia nehmen, 500 Kilometer nach Osten, wo seine Freunde aus Nador ihm sichere Arbeit zu akzeptabler Bezahlung auf einer Zitrusplantage versprochen haben. So verspricht es der schriftliche Vertrag. Dann heißt es sparen und wieder sparen, um der Familie drei Viertel des Verdienstes zu schicken. Wenn alles gutgeht, wird er im nächsten Sommer nach Marokko zurückkehren. Die Unsicherheit über seine Zukunft verursacht ihm Magenkribbeln. Hoffentlich stößt er nicht zu der Gruppe von Arabern und Afrikanern, die sich jeden Morgen auf dem Plaza de Espana in Madrid treffen, beinahe schon ohne Hoffnung, um von Arbeitslosigkeit und Mißerfolgen zu erzählen. Allein in Madrid leben nach Angaben der Vereinigung marokkanischer Arbeiter in Spanien, ATIME, etwa 10.000 Marokkaner als Illegale.

Auch in Algeciras gibt es Rassismus. Vor zwei Jahren verkaufte man dort den Einwanderern aus dem Maghreb mitten in der Sommerhitze eine einfache Flasche Wasser zum Preis von umgerechnet zehn Dollar. „Mohrenschweine“ steht auf einer weißen Mauer am Grenzübergang El Tarajal in Ceuta, der spanischen Enklave in Marokko, geschrieben. Jos Chamizo, 41 Jahre, Bahnhofspfarrer in San Roque, klagt: „Ich verstehe nicht, warum die Araber boykottiert werden. Hier im Hinterland von Gibraltar leben je nach Jahreszeit 250 bis 500 Immigranten aus dem Maghreb. Wenn man sie ein bißchen kennt, wird einem klar, wie schwer es ihnen fällt, ihr Land und ihre Familie zu verlassen; sie tun es nur aus existentieller Verzweiflung. Dort in Marokko gibt es viel Elend.“ Nach Meinung des katholischen Geistlichen „führt die Lösung über die Erhöhung der Sozialausgaben in Spanien und in Marokko und über die Wandlung eines Bewußtseins, das den Maghreb bisher nur als touristische Attraktion für die Reichen auf der Suche nach Exotik betrachtet. Nach dem Drang zur Exotik kam die Verachtung, und die Verachtung führt unweigerlich zum Rassismus.“

„In den letzten zehn Jahren wurde Spanien vom Arbeitskraft- Exportland zum Einwanderungsland für Arbeitskräfte“, sagt Fernando Puig de la Bellacasa, der 38jährige Staatssekretär im spanischen Innenministerium. „Wir haben die Absicht, binnen kurzem in jeder Provinz eine Ausländerbehörde aufzubauen. Wir wollen für die Aufnahme der Neuankömmlinge die bestmöglichen Bedingungen schaffen, aber dafür brauchen wir die Mitarbeit der Unternehmer und der Gewerkschaften“, betont er. 1990 lebten in Spanien zwischen 72.000 und 117.000 Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung, darunter 60.000 Nordafrikaner; zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die der Soziologe Antonio Izquierdo aus Granada für die Kommission der Europäischen Gemeinschaft erstellt hat. Andere nichtstaatliche Organisationen, die die Ausbeutung der illegalen Arbeitskräfte in Spanien öffentlich anprangern, gaben ihre Zahl mit 90.000 bis 170.000 an. Als die spanischen Behörden ab 1985 die Einwanderung per Ausländergesetz zu regeln begannen, kletterte der Anteil der Nordafrikaner auf 45 Prozent der Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung in Spanien. Etwa 40.000 illegale Einwanderer beantragten damals die Ausstellung gültiger Papiere. Aus dieser Zahl schließt die Studie von Antonio Izquierdo, daß sich monatlich zwischen 1.500 und 2.500 Ausländer illegal in Spanien niederlassen: vier von zehn Einwanderern stammen aus dem Maghreb, zwei aus Europa, weitere zwei aus Lateinamerika und einer aus Asien. Von hundert Immigranten sind neunzig zwischen 20 und 50 Jahre alt, neun sind Frauen und eines ein Kind. Algeciras bleibt ihr wichtigster Ort für den Grenzübergang nach Spanien – und für die Rückkehr nach Nordafrika während der Sommerferien.

Die Mehrzahl der beinahe 600.000 Nordafrikaner, die 1990 die Grenze bei Algeciras legal zu überschreiten versuchten, haben nach Angaben der Polizeigewerkschaft ANPU ihr Ziel erreicht. 60.136 Personen wurden jedoch aus verschiedenen Gründen abgewiesen: Die einen hatten keine Papiere bei sich, aus denen ihre Identität hervorging; andere besaßen keine gültige Aufenthaltsgenehmigung oder keinen Arbeitsvertrag, und die übrigen konnten die für den Transit erforderliche Geldsumme nicht vorweisen.

Bacher Ballal, ein 46jähriger Marokkaner, ist Imam der Moschee von Marbella. „Zu uns kommen Einwanderer aus dem Maghreb und suchen Hilfe. Wir sorgen uns vor allem wegen der Kinder“, sagt er. „Die Europäer dürfen sich nicht weigern, die Menschen aus der Dritten Welt aufzunehmen. Der Reichtum des Westens resultiert aus der Armut hier. Es sieht so aus, als ob Europa, in seinem eigenen Geldschrank verbarrikadiert, umkommen wolle. Es gab immer einen Dialog zwischen den beiden Küsten. Das spanische Volk war stets großzügig, es würde nie zulassen, daß sich die Tür schließt.“

Seit dem 15. Mai jedoch verlangen die spanischen Behörden von den marokkanischen Einwanderern ein Visum. Rabat hat angefangen, mit ungewohnter Großzügigkeit Pässe auszugeben. Algerien hat seit dem 15. Mai umgekehrt die Visapflicht für Spanier eingeführt. „Wenn ich den Einwanderern aus dem Maghreb einen Rat geben sollte, würde ich ihnen sagen: Kommt nicht hierher, ihr würdet hier unter erbärmlichen Verhältnissen leben. Ihr würdet hier nie so leben wie zu Hause, auch wenn es dort Probleme gibt“, sagt der 25jährige Ahmed Lebadi aus Marokko, der in Malaga Zahnmedizin studiert. In einem sauberen Nebenraum der Grenzstation von Algeciras, nur durch ein gelbes Eisengeländer von den anderen Immigranten getrennt, gehen die abgewiesenen Araber nervös rauchend auf und ab. Sie hatten nicht soviel Glück wie Hamdane. In ihren Augen steht der eisige Glanz der Enttäuschung. Algeciras ist keine grüne Insel mehr. Für sie hat es jetzt die trübe Farbe des endlosen Wüstensands.