FLIEHEN – ABER WOHIN?
: „Wenn wir allen helfen, sind wir morgen bankrott“

Die Japanerin Sadako Ogata ist die neue Flüchtlingshochkommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR). Sie will die traditionelle Trennung von Flüchtlings- und Entwicklungshilfe beenden. Gerade aus Kurdistan zurückgekehrt, nennt sie ihr Ziel: die weltweit steigenden Flüchtlingszahlen zu begrenzen. Denn dem UNHCR fehlt es nicht nur an Geld, sondern vor allem an Aufnahmeländern. Ein Porträt der „Obersten Anwältin der Flüchtlinge“  ■ VON
KLAUS VIELI

Die Journalisten warten, dabei ist Sadako Ogata schon einige Zeit im Raum. Niemand hat bemerkt, wie die zierliche Frau in den Saal gelangte, der im Genfer „Palais des Nations“ für Pressekonferenzen dient.

Etwas verloren steht sie vor den an die Wand gepinnten handgezeichneten Karten der Grenzgebiete zwischen dem Irak und dem Iran und dem Irak und der Türkei und starrt auf die Plakate, auf denen die Kürzel der Lager und Trecks keinen blassen Schimmer der Realität vermitteln, die sie soeben auf einer Inspektionstour bei den Kurden angetroffen hatte. Sterbende Kinder, verzweifelte Eltern, Prügeleien um Brot und eine Decke, alte Leute, die sich mit eisernem Üeberlebenswillen über Pässe geschleppt haben und jetzt, vor Saddams Schergen zwar gerettet, trotzdem langsam verenden, verhungern und erfrieren.

Grausame Schicksale – hier, im Hauptquartier des UNO- Hochkommissariates für Flüchtlinge, verschwinden sie hinter den Grafiken und Statistiken. Gleich beim Start im neuen Amt hat es Sadako Nakamura Ogata mit einer der schlimmsten Flüchtlingswellen seit Jahrzehnten zu tun: zwei Millionen Kurden sind auf der Flucht. Zahlen bloß, aber Frau Ogata war dort und sah die Gesichter, Menschen, die noch die Kraft dazu hatten, drängten zu ihr, um ihre Geschichte zu erzählen. Dann stieg die 63jährige erstmals in ihrem Leben in einen Helikopter, wie sie gestand, und beobachtete bis zu 80 Kilometer lange Warteschlangen erschöpfter Kurden vor der iranischen Grenze, Menschen mit einer persönlichen Geschichte. Sadako Ogata erzählt das lakonisch, in perfektem Amerikanisch, aber ganz auf japanische Art. Ihr Gesicht bleibt für den Europäer undurchdringlich, und der heftigste Gefühlsausbruch ist die Bemerkung, diese vier Tage seien die längste Kurzreise ihres Lebens gewesen.

Sadako Ogata hatte bereits eine brillante Karriere als Wissenschaftlerin, Menschenrechtsaktivistin und Diplomatin hinter sich, als die UNO-Versammlung sie im letzten Dezember zur Hochkommissarin wählte. Nach Studien in Japan, an der Georgetown University in Washington und in Berkeley lehrte sie als Professorin für internationale Beziehungen in Tokio. Sie war japanische Delegierte bei mehreren Sessionen der UNO- Generalversammlung, Vorsitzende des Exekutivrats der Unicef und japanische Delegierte in der Genfer UNO-Menschenrechtskommission. Dabei ist sie zu einer Mahnerin geworden: „Wir leben in einer Übergangsperiode, die geprägt ist von großen Unsicherheiten. Die weltweiten Wanderungsbewegungen sind Ausdruck dieser Unsicherheiten. In den neunziger Jahren werden Massenmigrationen wahrscheinlich ein ernstes Problem werden.“ Nach ihrer Einschätzung ist mit dem Drama in Kurdistan der Zenit noch nicht erreicht: „Glauben wir wirklich, daß die wohlhabenden Länder weiterhin in Ruhe leben können, wenn in der Dritten Welt so viele Konflikte existieren, die jederzeit explodieren können?“

Daß ausgerechnet Japan die Hochkommissarin für Flüchtlinge stellt, ist bemerkendwert, denn das Inselreich hat die rigideste Asylpolitik aller vergleichbaren hochindustrialisierten Länder. Das Land nimmt kaum Flüchtlinge auf, und nur unter massivem internationalen Druck erklärte es sich beim Massenexodus aus Vietnam bereit, ein kleines Kontingent von Boat people aufzunehmen. Die Chinesen, die vom Festland nach Japan fliehen, werden zwangsweise wieder repatriiert, eine Praxis, die Frau Ogata „delikat“ findet. Weiter will sie in ihrem Urteil nicht gehen. Dabei verletzen diese Abschiebungen das fundamentale Prinzip der Genfer Konvention, wonach kein Flüchtling wieder in das Land abgeschoben werden darf, in dem er Verfolgung zu erwarten hat. Japan werde wohl nie eine mehrrassige Gesellschaft werden, und der Spielraum für die Aufnahme von Flüchtlingen sei in ihrer dichtbesiedelten Heimat eng begrenzt. In diesem Zusammenhang benutzt die Diplomatin plötzlich den Begriff „Wirtschaftsflüchtlinge“, obwohl die Menschenrechtlerin vorher gesagt hatte, man dürfe sich „nicht einerseits mit dem Flüchtlingsproblem befassen und andererseits anders motivierte Migration ignorieren, da deren Ursachen oft die gleichen sind.“

Ihren Aufstieg an die Spitze des UNHCR verdankt Frau Ogata gleichwohl ihrer japanischen Herkunft. Das Land kompensiert seine Abweisung von Schutzsuchenden mit den dritthöchsten Zahlungen an das Budget der UNO-Flüchtlingsorganisation. Die USA steuerten im Jahre 1990 112 Millionen Dollar bei, Schweden folgte mit 58 Millionen und Japan mit 51 Millionen. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge muß seine Programme mit freiwilligen Beiträgen finanzieren und leidet an chronischer Geldknappheit. 1990 hatte es für die Flüchtlingsarbeit 540 Millionen Dollar zur Verfügung. Das ist nicht mehr, als ein Tag Golfkrieg kostete. Wobei dieser Krieg wiederum eine Flüchtlingswelle auslöste, die das UNHCR für Jahre beschäftigen wird. In Japan will die Japanerin künftig mehr Geld für die humanitären Aufgaben des UNHCR locker machen: „Japan ist zu einem ökonomischen Riesen geworden, warum sollte es kein humanitärer Riese werden?“ Die dringend notwendigen Mittel für ihre Kampagnen will die Hochkommissarin nicht nur beim Staat holen, sondern sie auch in der Wirtschaft zusammenbetteln. Ihr Mann, ein hoher Manager der Bank of Japan, kann ihr dabei helfen.

„Wie könnte ich optimistisch sein, wo ich doch so viele verzweifelt fliehen sah? Bei dieser Antwort wird die Stimme Frau Ogatas etwas lauter und beschwörender. Wer einmal in solchen Lagern war, wird den Geruch nicht mehr los. Bei den Szenen kann man wegschauen, die Augen schließen. Aber dieser verbrauchten Luft im freien Feld kann man sich nicht entziehen. Frau Ogata hat den Tod im Lager gerochen, und ihr ist klar, daß es keine schnellen und technokratischen Lösungen dieses Flüchtlingsproblems gibt. Im Gegenteil. Das Kurdendrama hat mit brutaler Deutlichkeit die Mängel und Grenzen der bisherigen Flüchtlingskonzepte der UNO und des Hochkommissariates demonstriert. Die Satzungen, die den Flüchtlingsstatus definieren, sind restriktiv. Gemäß der Genfer Konvention von 1951 und dem Protokoll von 1967 gilt ein Verfolgter erst außerhalb der Grenzen des Landes seiner Staatsangehörigkeit als Flüchtling. Viele der flüchtenden Kurden befinden sich aber noch innerhalb des Iraks und wären somit gar keine Flüchtlinge.Jetzt, wo im Irak drohte, daß die ganze Kurdenbevölkerung vor den Augen der Weltöffentlichkeit vernichtet wird, ist das eherne UNO-Prinzip der Nichteinmischung in die internen Angelegenheiten eines Staates ins Wanken geraten.

„UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar hat bei uns angefragt, ob wir die Verantwortung für die flüchtenden Kurden innerhalb des Irak übernehmen wollen. Eine riesige Aufgabe.“ Die UNO hat sich bereit erklärt, die Kurdenlager der Alliierten auf nordirakischem Boden im Grenzgebiet zur Türkei zu übernehmen, und das UNHCR ist dabei, im Irak „humanitäre Zentren“ einzurichten.

„Das ist etwas ganz Neues, daß wir Leute in ihrem eigenen Land gegen ihre eigene Regierung schützen sollen“, meint Sadako Ogata. „Wir brauchen viel Vorstellungskraft, um das Konzept dieser humanitären Zentren auszugestalten. Niemand hat sie bis jetzt operationell definiert.“

„Massenmigrationen werden wahrscheinlich ein ernstes Problem der neunziger Jahre sein“, meint Frau Ogata. Xenophobie, der Haß auf das Fremde, wird in den Immigrationsländern zunehmen. „Vielleicht liegt das in der Natur des Menschen. Es ist nicht verwerflich, wenn im Sinne des sozialen Friedens darüber nachgedacht wird, wie sich der Strom der Flüchtlinge begrenzen läßt. Die Menschen verlassen ihre Heimat heute nicht mehr allein wegen Verfolgung, sondern auch wegen unerträglicher Wirtschafts- und Umweltbedingungen. Das UNHCR ist zwar keine Entwicklungshilfeorganisation, aber wir sollten ein Anwalt fur Entwicklungshilfe sein, denn ohne sie lassen sich neue Flüchtlingsströme nicht verhindern.“

Sind die Menschen erst einmal auf der Flucht, dann werden Lösungen für das UNHCR enorm schwierig. Die freiwillige Heimkehr ist nicht möglich, wenn die Umstände, die Flüchtlinge aus ihrer Heimat vertrieben haben, sich nicht rasch ändern. Die lokale Eingliederung im Erstasylland wird wegen der Dimensionen der neuen Völkerwanderungen immer illusorischer. Und eine Neuansiedlung anderswo scheitert an der immer restriktiver gehandhabten Asylpolitik in den hochindustrialisierten Ländern. Gelder sind für Frau Ogata einfacher aufzutreiben als aufnahmewillige Länder. Aber nicht einmal genügend Finanzmittel für die Flüchtlingshilfe in der Golfregion sind vorhanden. Der Golfkrieg hat rund 150 Milliarden Dollar gekostet. Für die Opfer des Krieges hat Frau Ogata jetzt 400 Millionen Dollar für einen humanitären Aktionsplan budgetiert, 238,5 Millionen davon soll das UNHCR bezahlen. Auf einen Spendenaufruf der Hochkommissarin hin sind aber erst rund 30 Millionen eingetroffen.

Die Koffer des Blitzbesuches an der Front sind noch nicht ausgepackt, und schon muß die Hochkommissarin auf Betteltour. „Morgen fliege ich bereits nach Japan.“ Aber auch mit den Yen-Beträgen, die sie zurückbringen wird, können ihre Probleme nicht gelöst werden: „Wenn wir versuchen, allen zu helfen, sind wir morgen bankrott.“