GEN NORDEN – GEN WESTEN
: „Die UNO am Wendepunkt“

■ Solange das Einkommensgefälle zwischen Nord und Süd, West und Ost zunimmt, werden die großen Migrationsbewegungen nicht verschwinden. Neben einem Umwelt-Sicherheitsrat sollte die UNO auch über einen solchen für Flüchtlinge verfügen. Langfristig allerdings lassen sich die Wanderungen nur mit einer Reform der internationalen Handels- und Finanzpolitik verhindern. Ein Interview von Michael Rediske und Georgia Tornow mit WILLY BRANDT

taz: Herr Brandt, wie haben Sie sich seinerzeit in Norwegen und Schweden gefühlt: als Einwanderer oder als Flüchtling?

Brandt: Ich habe mich als Flüchtling empfunden – erst aus Deutschland, dann aus Norwegen.

Kann man heute noch so einfach zwischen Flüchtlingen und Zuwanderern unterscheiden?

Sicher kann man nicht alle Migranten in die eine oder andere Kategorie einordnen – aber es ist immer noch entscheidend, wie jemand weggegangen ist: ob gezwungen oder freiwillig, ob jemand darauf wartet, daß die Verfolgung vorübergeht, oder ob er die Hoffnung hat, bereichert – und das in mehrfacher Hinsicht – zurückzukehren.

Was empfinden Sie, wenn heute das Flüchtlingselend der Kurden in Reportagen über die Fernsehbildschirme läuft?

Betroffenheit, zumal das Thema Kurden ja sehr alt ist. Nach dem Ersten Weltkrieg war es Teil der Friedensverträge, es wurde dann unter dem maßgeblichen Einfluß des sonst ja sehr eindrucksvollen Kemal Atatürk beiseite geschoben. Plötzlich gab es keine Kurden mehr, sondern nur noch Bergtürken. Heute fühlt man sich durch das Fernsehen natürlich viel betroffener, das gilt auch für mich. Vielleicht führt das ja dazu, daß das Problem endlich nicht mehr ausgeklammert wird.

Die internationalen Mechanismen, UNHR oder Genfer Konvention, haben sich als unzureichend erwiesen. Sehen Sie jetzt die Chance für eine durchgreifende Reform – auch auf Kosten von staatlicher Souveränität? Braucht es eine Kompetenzerweiterung für die UNO?

Sicher. Vielleicht ist die UNO sogar an einem Wendepunkt. Davon sind wir, die wir kürzlich die Stockholmer Initiative gestartet haben, jedenfalls überzeugt. Da sind auch Vaclav Havel, Ingvar Carlsson, Gro Harlem Brundtland und Julius Nyerere dabei, und in unserem Memorandum sagen wir ganz deutlich: Die UNO kommt gar nicht darum herum, sich mit neuen Mechanismen und Organisationsformen zu befassen. Nehmen wir einen Vergleich: Vor fünf Jahren hatte man sich noch nicht klargemacht, daß die Umweltzerstörung auch ein Sicherheitsproblem ist. Seitdem haben wir gelernt, daß wir so etwas wie einen Umwelt-Sicherheitsrat mit Sanktionsgewalt brauchen. Ähnlich kann sich aus dem Golfkrieg und seinen Folgen ergeben, daß das Problem der Flüchtlinge künftig als ein hochrangiges Problem für die gesamte UNO wahrgenommen wird und nicht nur als die Sache eines Flüchtlingshochkommissars, der in Genf sitzt.

Die Industrieländer sind offenbar unfähig, die Zuwanderung aus den armen Ländern des Südens anders als durch Schließen ihrer Grenzen zu verhindern.

Zunächst einmal gibt es eine einfache Formel: Je steiler das Einkommensgefälle, desto größer der Anreiz, in ein anderes Land zu wandern. Da jenes Gefälle sowohl auf der Nord-Süd- als auch auf der Ost-West-Achse zugenommen hat, ist der Anreiz zur Abwanderung mehr oder weniger proportional gestiegen. Es gibt Möglichkeiten gegenzusteuern, aber man darf – leider – nicht zu viel zu rasch erwarten. Der Kern des Problems ist: Wird es möglich sein, aus dem, was man vor 10, 20 Jahren noch Entwicklungspolitik genannt hat, eine richtige Nord-Süd- Politik zu machen – eine, die auch die Handels- und Finanzpolitik verändert?

Für den Krieg gegen den Irak sind in vielen Ländern der Koalition sehr schnell Riesensummen aufgebracht worden, allein die deutsche Bundesregierung hat über 17 Milliarden Mark an die USA gezahlt. Aber für die vorbeugende Verhinderung von Flüchtlingsströmen – zum Beispiel dadurch, daß ökologische Zerstörung verhindert wird – ist selten oder nie Geld da.

Das ist ein Widerspruch, mit dem wir noch eine ganze Weile leben werden, der Konflikt zwischen dem alten und dem neuen Denken. Alles, was mit Krieg zusammenhängt, ist noch fester verankert. Dazu kommt die große Macht der USA, die ziehen die anderen mit. Ich bin nicht so optimistisch zu glauben, daß man ähnliche Summen für den Kampf gegen die Armut mobilisieren kann, um damit gegen die Ursachen von Massenwanderungen anzugehen. Trotzdem: Die Chance, daß man sich dem annähern könnte, ist seit dem Golfkrieg gestiegen.

Die Ost-West-Entspannung, an deren Zustandekommen Sie ja nicht ganz unbeteiligt waren, hat in Gorbatschows Perestroika gemündet. Ergebnis ist nun, daß der alte Ostblock nicht mehr von den internationalen Wanderungsbewegungen ausgeschlossen ist. Sehen Sie das nur positiv, oder gibt es da auch berechtigte Ängste, wenn die europäische Armutsgrenze Richtung Osten vorrückt?

Diese Migrationen sind eine unvermeidliche Folge des Falls der Mauer, den auch ich so nicht vorhergesehen habe. Abschotten hilft auf Dauer nicht, genausowenig wie im Fall der nordafrikanischen Einwanderung aus dem Süden. Sondern man muß sich auf diese neue Situation einstellen und zwei Dinge zustande bringen: einmal mithelfen, daß die Verhältnisse dort sich so verändern, daß der Drang wegzugehen, verringert wird. Das muß für Polen, Ungarn und die CSFR bedeuten, möglichst rasch die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sie in die Europäische Gemeinschaft können. Das wiederum geht nur über Assoziierungen, und zwar solche, die nicht sehr viel nach dem Jahr 2000 Mitgliedschaft bedeuten.

Was Rußland oder ein neues föderatives System der bisherigen Sowjetunion angeht, muß man sich wohl besondere Formen von Assoziierung oder andere Arten von Kooperation vorstellen. Sagen wir: Ich bin gedämpft zuversichtlich. Europa verfügt über die Möglichkeiten, den Menschen in allen Teilen des Kontinents zu guten Lebensbedingungen zu verhelfen, in einigen Ländern allerdings besser als in anderen, denn die großen Unterschiede im industriellen Sektor oder bei den Dienstleistungen lassen sich innerhalb eines Jahrzehnts auch nicht annähernd angleichen. Auf der anderen Seite muß sich die EG auch darauf einstellen, daß eine beträchtliche Anzahl von Menschen kommen wird, denen man nicht einfach die Tür vor der Nase zuschlagen kann.

Auf wen muß sich eine solche Ostpolitik der EG dann stützen, kann und sollte das weiter Gorbatschow sein?

Ich zögere, weil man nicht wissen kann, was in einigen Wochen ist. Aber ich schließe nicht aus, daß die, die sich in Moskau heute ein bißchen viel miteinander streiten, doch auch noch zusammenfinden könnten. Bei uns sollte man jedenfalls nicht übersehen: Rußland bleibt ein großes Land und eine große Macht. Und ich halte es eher für wahrscheinlich, daß Rußland und die nichtperipheren Teile der bisherigen Sowjetunion – wenn auch etwas qualvoll – in eine föderative Ordnung hineinwachsen werden. Allerdings, wenn ich jetzt in Moskau etwas zu besprechen hätte, könnte ich sicher nicht nur mit Gorbatschow reden – bei allem Respekt vor dem Präsidenten der Sowjetunion.

Was ist Ihre Position zur Einwanderung in die EG – zwischen „Festung Europa“ und einer Politik der „offenen Grenzen“?

Westeuropa ist eine Einwanderungsregion – und muß deshalb Aufnahmeverfahren entwickeln. Ein Einwanderungsgesetz könnte die Zuwanderung je nach Integrationskraft quotieren und eine gleichmäßige Verteilung auf die Mitgliedsländer ermöglichen.

Sind den Europäern nicht mehr Flüchtlinge zuzumuten, als sie jetzt hereinlassen, wenn man bedenkt, daß andere Länder wie Pakistan ja Millionen aufnehmen, aber die wenigsten bisher nach Europa gelangen?

Ich glaube nicht, daß es fixe Grenzen gibt. Aber sicher muß man überlegen, was man den Leuten zumuten kann, ohne daß etwas umkippt. Die psychologischen Voraussetzungen bei uns sind schwieriger als etwa im islamischen Pakistan mit seinen afghanischen Flüchtlingen. Für die sich erweiternde EG werden Osteuropa und Nordafrika objektiv bevorzugte Regionen sein – schon aus geographischen Gründen. Was bedeuten wird, daß man vermutlich etwas vorsichtiger bleibt bei Quoten für Zuwanderer aus anderen Teilen der Welt. Außerdem geht es ja in Europa nicht um die Einrichtung von Flüchtlingslagern, sondern um ein Miteinanderleben.

Besorgniserregend sind aber doch die innergesellschaftlichen Reaktionen von Fremdenfeindlichkeit, gerade auch in Deutschland, wo kürzlich an der Ostgrenze zu Polen, in Frankfurt/Oder, Autos und ein Reisebus mit polnischen Touristen tätlich angegriffen wurden. Was tut die SPD dagegen, die ja in dem betroffenen Bundesland Brandenburg den Regierungschef stellt und sich traditionell als internationalistisch verstanden hat?

Wir wissen, daß es eine ins Kaiserreich zurückgehende antipolnische Tendenz gibt. Die wurde zur SED-Zeit formal unter Kontrolle gebracht, war aber nicht verschwunden. Jetzt ist der Deckel weg. Ja, die Sozialdemokraten müssen eine aktive Rolle dagegen spielen. Fremdenfeindlichkeit einfach abzulehnen ist ja keine Kunst. Es ist eine berechtigte Erwartung an die Sozialdemokraten, daß sie sich hineinbegeben in eine öffentliche Auseinandersetzung, in eine Vielzahl von Gesprächen mit den Menschen, um klarzumachen, wie wenig dies zu akzeptieren ist.

Stimmen Sie zu, daß die Kirchen zur Zeit viel lauter als die Parteien inklusive der SPD die Interessen der Immigranten wahrnehmen?

Ja, das ist ein neuer Grund, dankbar zu respektieren, was Kirchen in dieser Zeit bewirkt haben. Ich will noch hinzufügen – und nicht als Entschuldigung –, daß man nicht übersehen darf, daß die Sozialdemokraten in den sogenannten neuen Ländern doch noch eine organisatorisch unzulängliche Kraft sind. Übrigens: Welche Arroganz steckt darin, Sachsen ein „neues Land“ zu nennen, im Vergleich mit den Bindestrichländern in der alten Bundesrepublik.

Wir haben auch eine Ost-West-Wanderung in Deutschland. Noch immer ziehen jeden Monat Zehntausende Ostdeutsche in den Westen...

...Das dürfen wir aber nicht mit den übrigen Migrationen gleichsetzen. Das ist nichts anderes, als was in vielen wohlhabenden Ländern stattfindet...

...Erwarten Sie, daß diese Ost-West-Wanderung noch lange anhält?

Das ist eine bedrückende Problematik, deren Ende aber leicht abzusehen ist. Ich will jetzt nicht streiten um die Zahl der Jahre – wenn der wirtschaftliche Aufschwung kommt, beginnt jedenfalls in Teilgebieten wieder eine von West nach Ost gehende Wanderung. Das müssen nicht dieselben sein, die jetzt weggegangen sind.

Die Gefahr, daß der Osten Deutschlands auf Dauer zu einem Mezzogiorno wird, sehen Sie nicht?

Ich bin zuversichtlich. Ich glaube, das Ende ganz klar vor mir sehen zu können, während ich auf allen anderen Gebieten, selbst den europäischen, nur hoffen kann, daß uns Teilerfolge möglich sein werden.

Wenn wir mal Migrationen mit Blick auf Weltgesellschaft und einen weltbürgerlichen Zustand hin sehen: Wie beurteilen Sie da all diese Wanderungsbewegungen? Ist das nicht ein Prozeß, den wir brauchen – auch wenn er zur Zeit als bedrohlich angesehen wird?

Wir können uns ja nicht aussuchen, wie wir's am liebsten hätten. Wir müssen versuchen, diese Bewegungen so abzufedern, daß sie nicht mit zuviel Chaos verbunden sind. Dann werden sie unter dem Strich mehr Positives bewirken als Belastendes. Nehmen wir Kalifornien, bei allen Schattenseiten der amerikanischen Gesellschaft: Das nenne ich eine success story, etwas, das nach vorne weist. Und ich zweifele auch nicht daran, daß die Wanderungsbewegungen dazu beitragen, daß die Staaten einander näherkommen.