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: Die neunziger Jahre: Welten in Bewegung

Die Migration aus politischen und wirtschaftlichen Gründen wird in diesem Jahrzehnt noch weiter zunehmen. Alle Regionen der Erde sind davon betroffen. Nicht zuletzt deshalb, weil der ethnische Faktor in der Weltpolitik an Bedeutung gewinnt.  ■ VON GILDAS SIMON

Werden die folgenden Jahre das Jahrzehnt der Migrationen sein? Manche Experten gehen davon aus, daß sich die internationalen Bevölkerungsbewegungen bis zum Jahre 2000 verdoppeln werden. Untersuchungen, die in einigen Ausreiseländern durchgeführt wurden, sagen einen starken Migrationsschub voraus. Nach einer Umfrage, die die 'Times' 1989 in Mexiko gemacht hat, wollen sich 22 Prozent der Einwohner dieses Staates dauerhaft in den USA niederlassen. Und die Untersuchung, die das französische Meinungsforschungsinstitut IPSOS für diese Ausgabe von WORLD MEDIA durchgeführt hat, zeigt, daß durchschnittlich 10 Prozent der jungen Ungarn, Tschechoslowaken und Moskauer nach Westeuropa, Nordamerika oder Australien auswandern möchten.

Aber die jüngste Vergangenheit erinnert uns auch daran, daß die Zukunft der menschlichen Migrationen nur schwer vorauszusagen ist. Auch ohne den Zweiten Weltkrieg und die Veränderungen, die er in Europa und Asien hervorgerufen hat (mehr als 16 Millionen „Heimatlose“ und Umsiedler), ist viel geschehen, was den Lauf der Migrationen von ganzen Bevölkerungen verändert hat. Nur wenige haben Anfang der siebziger Jahre die Wirtschaftskrise vorausgesehen, die die entwickelten Länder schwer erschüttern sollte und die den massiven Zustrom von Arbeitern aus dem Mittelmeerraum nach Westeuropa deutlich verringerte. Ein uns näherstehendes Ereignis: Wer war nicht überrascht von der plötzlichen Auflösung des sowjetischen Glacis, dem Ende des Eisernen Vorhangs oder der Golfkrise? All diese Ereignisse haben einen riesigen Migrationsschub verursacht und zu dramatischen Auswanderungsbewegungen geführt, wie etwa bei den Kurden, über die uns das Fernsehen Tag für Tag schreckliche Bilder liefert.

Wir können weder den Beginn noch den Umfang weiterer Migrationen voraussehen, aber wir kennen bereits die Schauplätze der größten Zusammenstöße, der hauptsächlichen geopolitischen, ökonomischen und kulturellen Bruchlinien, die unsere Welt zertrennen. Die Geographie der gegenwärtigen Migrationen zeigt die „Kontinentalverschiebung“ und noch häufiger den brutalen Zusammenstoß von Kontinenten, was an „Toren“ und Bruchstellen wie Budapest, Algeciras und El Paso deutlich wird.

Der Mythos vom nordamerikanischen Eldorado

Die beiden „mediterranen“ Räume – des alten Kontinents und Amerikas – sind ganz klar die wichtigsten Bruchstellen und Konfliktpunkte der Migrationen, da die demographisch-ökonomischen Disparitäten und die kulturellen Konfrontationen zwischen Süd und Nord hier sehr stark sind – der Norden als ElNorte, wie in dem großartigen Film von Gregory Nava (1984), der eindringlich die Emigration, die Austreibung aus einem Süden beschreibt, der durch Ungerechtigkeit und Bürgerkriege und den verheerenden, aber attraktiven Mythos des nordamerikanischen Eldorados zerrissen wird.

Ende der achtziger Jahre kam fast ein Drittel der Emigranten auf der ganzen Welt aus den beiden „mediterranen“ Räumen (25 Millionen auf dem alten Kontinent und der arabischen Welt; 16 Millionen in der Karibik und in Mexiko). Und die Migrationsdynamik, die dort zu dieses Jahrhunderts eingesetzt hat, scheint noch nicht am Ende zu sein, selbst wenn bestimmte traditionelle Ausreiseländer wie Italien und Spanien nun ihrerseits mit dem brennenden Problem der Immigration konfrontiert sind. Die wichtige Rolle der USA für Mexiko, die starke Anziehungskraft, die Europa auf die arabische Welt ausübt (trotz der Krise, die durch den Konflikt im Mittleren Osten ausgelöst wurde), die Unterschiede der demographischen Entwicklung und vor allem der Lebensstandards und der Mangel an Demokratie im Süden können in den nächsten zehn Jahren zu freiwilligen oder erzwungenen, zu legalen oder illegalen Migrationen in Richtung Norden führen.

Aber es tauchen noch andere Bruchlinien auf, oder, genauer gesagt, sie entschleiern sich. Die erste liegt im Osten Europas. Mit der wiedererrungenen Freiheit, der politischen Freiheit, aber auch der Reisefreiheit nehmen die Völker des Ostens noch stärker die großen Entwicklungsunterschiede gegenüber dem Westen wahr. Es ist nicht erstaunlich, daß es nach der Studie von IPSOS/WORLD MEDIA die jungen Leute sind, die beruflich besser Gebildeten der Städte, die am meisten dazu tendieren, die Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Aufstieg im Ausland zu verwirklichen. Die starken Einkommensunterschiede gegenüber dem Westen und die steigende Arbeitslosigkeit werden wahrscheinlich zu beträchtlichen Bevölkerungsströmen führen, vor allem aus den Regionen, in denen es große ethnische oder politische Probleme gibt, wie zum Beispiel in den Balkanländern (Jugoslawien, Albanien) und in den inneren Peripherien der Sowjetunion (die baltischen Länder, der Kaukasus, Zentralasien).

Japan und die vier „asiatischen Drachen“

Eine weitere Linie des Migrationsdrucks liegt in Asien. Sie reicht von Pakistan bis Südkorea und verläuft über Indien, Bangladesch, Indonesien, Vietnam und die Philippinen. Diese riesige Mondsichel ist seit 1975 ein Ort starker Exodus-Bewegungen und Arbeitsmigrationen gewesen: Die einen ergaben sich aus regionalen Konflikten, die bis heute Afghanistan und die indochinesische Halbinsel zerreißen (mehr als 8 Millionen Flüchtlinge). Die anderen sind Resultat des großen Arbeitskräftebedarfs in den Ölmonarchien. Insgesamt sind mehr als 12 Millionen Vertragsarbeiter im Laufe der letzten zwanzig Jahre ausgewandert. In dieser asiatischen Migrationsdynamik, die auch Australien und Nordamerika betrifft (mehr als die Hälfte der legalen Einwanderer in die USA kommen zur Zeit aus Asien), taucht mit der Schaffung eines riesigen Arbeitskräftebeckens rund um Japan und die „asiatischen Drachen“ (Südkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur), zu denen nach und nach Malaysia und Thailand hinzukommen, ein neues Phänomen auf. Was die Größe betrifft, gibt es überdies eine weitere Unbekannte: China. Die politische Entwicklung dieses demographischen Giganten (1,2 Milliarden Einwohner) nach der Unterdrückung des „Pekinger Frühlings“ und sein massives Drängen auf die asiatischen und internationalen Arbeitsmärkte kann die weltweite Migration grundlegend verändern.

Die Diaspora im modernen Weltsystem

Viele Migrantengruppen versuchen, Diaspora zu bilden; dies setzt eine wirkliche Solidarität innerhalb derselben ethnischen Gruppe voraus, ganz gleich, ob sie nun aus Arbeitern, Händlern oder Geschäftsleuten besteht. Auch wenn einige Diaspora im Rückgang begriffen sind oder durch Abwanderung nahezu verschwinden (zum Beispiel die jüdischen Gemeinschaften in Westeuropa), so hat das Phänomen der Diaspora weltweit doch einen beträchtlichen Umfang.

Es scheint, daß diese „ethnischen Multinationalen“ eine Antwort auf die Internationalisierung des Handels, des Kapitals, der Kommunikation und die Schaffung eines Weltsystems sind. Die Netze der Diaspora und ihre Fähigkeit zur Überbrückung internationaler und multipolarer Räume (zum Beispiel bei den Chinesen oder Libanesen) trägt zweifellos dazu bei, die legalen und illegalen Migrationsströme zu unterstützen und oft sogar zu verstärken. Auf diesen unsichtbaren Wegen zirkulieren ständig Arbeiter und Familien, Informationen und Kapitale. Die finanzielle Bedeutung dieser Migrationen ist beträchtlich. Für 1990 kann man die Arbeitseinkünfte im Ausland auf fast 50 Milliarden US-Dollar schätzen. Sie steigen seit 20 Jahren stark an: ungefähr 5 Milliarden im Jahre 1970, 35 Milliarden zu Beginn der achtziger Jahre.

Ingenieure und Manager zirkulieren um die Welt

Die Migrationen umfassen mehr und mehr die Bewegung von Spezialisten. Es geht hier um Techniker, Ingenieure, hochqualifiziertes Personal und Manager, die sich zum Teil für kürzere Zeit (von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren) zwischen den reichen Ländern, aber auch in die weniger entwickelten Staaten bewegen. Als strategisches Element der multinationalen Unternehmen, aber auch der Entwicklung von Staaten ist diese weltweite Zirkulation von Berufstätigen ein weiteres Hauptmerkmal der internationalen Migrationen im gerade abgelaufenen Jahrzehnt und wird es künftig prägen.

Der ethnische Faktor in der Geopolitik lebt wieder auf

Die Bevölkerungsbewegungen sind daher besonders aufschlußreich für die gegenwärtigen Gesellschaften, ihre Krisen und Konflikte, für ihre Ungleichgewichte, aber auch für die gerade stattfindenden großen Veränderungen. Ihre „Spiegelfunktion“ liegt im Zentrum aller Forschungsrichtungen und sogar im Herzen jedes menschlichen Wesens, wie Elie Wiesel im seinem schönen Artikel Xenophobia, die Angst vor dem Fremden? sagt.

Wie alles, was zur Erhellung oder Entwicklung einer Sache dient (und das im photographischen Sinne des Wortes), ist die internationale Migration eine Frage, die stört. Sie stört die Gesellschaften, aus denen man abwandert, durch das damit gefällte Urteil, durch die „Abstimmung mit den Füßen“, die die Diktatur oder die Unfähigkeit einer Regierung sanktioniert; sie stört in den Einwanderungsländern, selbst wenn sie erwünscht ist (wo soll man wohnen, wo eine Arbeit finden, wie soll man die 200.000 Juden unterbringen, die dieses Jahr in Israel einwandern?), und sie stört vor allem dann, wenn sie nicht erwünscht ist.

Was soll man mit den albanischen Flüchtlingen anfangen, die die Quais von Brindisi mit ihren Plastikzelten „besetzen“, oder mit den Vietnamesen, die in den Lagern von Hongkong hinter Stacheldraht sitzen? Wie soll man mit den städtischen Ansammlungen von ethnischen Gruppen oder Gemeinschaften, mit der drohenden Gefahr oder der Realität des Gettos umgehen? Geben die riesigen Stadtteile oder gar Städte der einzelnen Volksgruppen in San Francisco oder in Los Angeles schon einen Voreindruck von den künftigen Weltmetropolen? Und haben wir Westeuropäer schließlich das Recht, die Osteuropäer daran zu hindern, daß sie kommen, um in diesem Teil Europas zu leben und zu arbeiten, nachdem wir das Recht auf Emigration unterstützt haben, als sie unter kommunistischen Regimen lebten? Eine Frage, die stört, ist zweifellos eine richtige, wenn nicht sogar eine gute Frage.

Gildas Simon lehrt Geographie an der Universität Poitiers und ist Chefredakteur von Revue Europeene des Migrations Internationales.